Erik Moeller wrote:
[ Fehlende Werkzeuge zum Erzeugen enzyklopädischer Kohäsion ]
> Daraus dass wir bis auf ein paar Grundregeln keine
> Top-Down-Lemmaselektion betreiben, folgt nicht, dass wir keine
> Enzyklopädie sind, sondern dass wir eine *andere* Enzyklopädie sind.
Das Fehlen einer Top-Down-Lemmaselektion ist auch kein
Exklusionskriterium, sondern ein Indiz für etwas, was in der Wikipedia
prinzipbedingt nicht funktioniert; das Problem ist nicht der alternative
Bottom-up-Weg, den die Wikipedia theoretisch einschlagen könnte, sondern
daß dieser Kompensationsmechanismus derzeit vollkommen fehlt.
Ich bin ziemlich sicher, dass man kooperative Werkzeuge zu
Gewährleistung von Kohäsion in einem Online-Nachschlagewerk entwickeln
könnte; ob das aber in einem Wiki möglich ist, steht auf einem anderen
Blatt. Ich glaube, der Einwand von Ward Cunningham ist sehr ernst zu
nehmen...
[ Enzyklopädische Relevanzkriterien vs. Programmatik ]
> Mag sein, aber nur weil der Brockhaus und die Encarta
> Sexualpraktiken, geheime CIA-Programme, Konzepte von
> Programmiersprachen, Inhalte von Science-Fiction-Serien usw. für
> weniger "lemmatisch ansprechend" halten als wir, folgt daraus nicht,
> dass wir uns weniger als Enzyklopädie bezeichnen dürfen, im
> Gegenteil.
Ja sicher, auch die Inhalte halte ich persönlich nicht für ein
Exklusionskriterium; um ein heute noch vertretbares Verständnis von
Wissen zugrunde zu legen, müsste man den "Kreis des Wissen" einer
klassischen Enzyklopädie stark modifizieren, m.E. sogar nach einem
radikal inklusionistischen Prinzip.
Was Wikipedia fehlt, ist aber die Programmatik, die in den ungeordneten
Artikelhaufen einen Sinn bringt. Diese Programmatik ist es, die ein
Nachschlagewerk zu einer Enzyklopädie macht und sie von einem Wörterbuch
bzw. einem Lexikon unterscheidet.
Wenn man keine Programmatik haben will, sollte man aber auch nicht den
Begriff Enzyklopädie verwenden, sondern einen pasenderen Begriff suchen
oder erfinden.
>> Die Wikipedia kann derzeit prinzipbedingt aus verschiedenen Gründen
>> keine Enzyklopädie sein. Zum einen ist prinzipbedingt nicht
>> möglich, eine bestimmte Weltsicht als Interpretations- und
>> Erklärungsraster zu definieren; NPOV ist ein formales Kriterium,
>> aber keine Weltsicht wie "Christlich" bei den Enzyklopädien im
>> Mittelalter oder "Aufklärerisch" bei der "Encylopédie" von Diderot
>> und d'Alembert.
> Damit setzt Du aber voraus, dass eine Enzyklopädie eine solche
> Weltsicht vertreten *müsse*. Dafür fehlt mir der Beweis.
Dann sage mir, was Du als Beweis akzeptieren würdest und erkläre mir,
warin sich eine Enzyklopädie von einem Wörterbuch oder Lexikon
unterscheidet. Advocatus diaboli: Warum heisst das Ding im Regal wohl
"Metzler Philosophie Lexikon" und das von Hegel daneben "Enzyklopädie
der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse"?
Die "Weltsicht", "Perspektive" oder "Ideologie" ist ein notwendiges
Kriterium für eine Enzyklopädie. Das konstituierende Merkmal der
Enzyklopädie, des Kreises des Wissens (gemeint ist natürlich *eines*
bestimmten Wissensverständnisses), ist der Universalitätsanspruch, und
dieser ist nur zu erreichen im Rahmen eines definierten und
definierbaren (!) Weltbildes.
Eine solche Ideologie findest Du in *ausnahmslos* jeder Enzyklopädie;
sie ist entweder inhärent auffindbar, wenn sie versteckt werden soll
oder für den Leser der jeweiligen Zeit evident ist, oder explizit und
programmatisch formuliert wie in der "Encyclopédie" im "Prospekt", der
"Vorbemerkung" (Avertisement), der "Einleitung", der "Ankündigung" usw.
Die zugrundeliegende "Odnung der Dinge" zeigt der Stammbaum des Wissens
(Systême figuré des connoissances humaines), jeder Artikel wird durch
einen dem Lemma angefügten Oberbegriff in diesem Stammbaum
kategorisiert. Der "Stammbaum" der "Encyclopédie" unterscheidet sich an
signifikanten Stellen von dem von Francis Bacon, also liegt hier eine im
Vergleich zu Bacons "neuer Wissenschaft" zwar andere, aber
programmatisch formulierte Weltsicht vor.
Der Brockhaus ist ein Produkt der Neuzeit, die hier vertretene Weltsicht
ist die Ideologie der Moderne, die entsprechende Programmatik wurde in
den Vorwörtern der jeweiligen Auflagen expliziert; Beispiel aus der 19.
Auflage von 1986, die charakteristischerweise zunächst aus dem Vorwort
zur 7. Auflage (!) zitiert: "[...] das Wissenswürdigste für allgemeine
Bildung, aus dem Umfange der Wissenschaft, der Natur, der Kunst und des
öffentlichen Lebens [...]; und weiter (nicht mehr zitiert aus der 7.
Auflage): "Die Brockhaus Enzyklopädie beschreibt und erklärt die Welt
von A bis Z; sie beantwortet Fragen an die Vergangenheit, unterrichtet
über die Gegenwart und bietet dem Benutzer Orientierung für die
Zukunft". Das Weltbild von Brockhaus schliesst also typische alternative
Wissenskategorien aus ("verborgenes Wissen", mythisches Wissen, Dinge,
die nicht als Kunst anerkannt sind, Trivialkultur usw.), also durch und
durch das Weltbild der Moderne, wo der Brockhaus eben ideologisch
steckengeblieben ist. Ausserdem will der Brockhaus "Orientierung für die
Zukunft" bieten. Hat die Wikipedia eine vergleichbare Ideologie? Wo ist
diese Programmatik formuliert? (Ob der versprochene Anspruch einer
Enzyklopädie eingelöst wird, ist natürlich auch wieder eine ganz andere
Frage)
Eine postmoderne Enzyklopädie gibt es bisher nicht, und ich bin mir auch
nicht sicher, ob sie überhaupt möglich wäre, aber die Ansätze der
Wikipedia würden m.E. geradezu ideal dazu passen (vgl. Lyotards
Zustandsbeschreibung in der "Condition postmoderne").
>> Wikipedia kann keinen "Kreis" von Wissen bilden und daher keine
>> Geschlossenheit erreichen, weil der ideologische Überbau fehlt
> Diese Geschlossenheit ist bei NPOV dann gegeben, wenn alle relevanten
> Sichtweisen in einem Artikel enthalten sind und wohlmeinende Leser
> aller Weltanschauungen sich mit den entsprechenden Formulierungen
> einverstanden erklären können. Das ist immer noch ein Kreis, es ist
> nur ein sehr großer.
Nein, denn Deine Aussage bezieht sich sich nur auf die Mikrostruktur
eines Wörterbuchs oder Lexikons. Eine Mikrostruktur für Enzyklopädien
wurde m.W. nie normiert, sie ist daher m.E. nur von untergeordneter
Bedeutung. Das, was eine Enzyklopädie ausmacht, ist der *Zusammenhang*
zwischen den Artikeln (im Bereich der Makrostruktur) eines definierten
und definierbaren Wissensraumes. NPOV reicht dafür nicht aus, weil NPOV
naiverweise behauptet, summa summarum eine Sichtweise *ohne* Standpunkt
darstellen zu können (was bedeutet "neutral" sonst als zu behaupten,
letztlich *keinen* Standpunkt zu vertreten? NPOV ist also die Negation
eines Standpunkts und über letzteren konstituiert sich nunmal eine
Enzyklopädie).
>> Eine Enzyklopädie braucht Zusammenhalt zwischen den Artikeln, nicht
>> nur isolierte "exzelllente Artikel"
> Denke allein an die
> Navigationshilfen bei EU, OPEC & Co. - manche finden's nervig, aber
> real handelt es sich dabei um Strukturierungsversuche, wie sie bei
> uns ständig betrieben werden.
Nein, es geht hier nicht um Navigationsprobleme, sondern um den
*intertextuellen* Zusammenhalt. Ein erster Schritt dahin wäre, dass alle
Artikel, die auf [[Kommunikation]] verweisen, wirklich exakt auf das
verweisen, was in [[Kommunikation]] steht. Das ist schon ein
prinzipbedingtes Problem, weil Wikipedia eben ein Wiki ist, sich
refernzierte Inhalte und Argumentationen also permanent ändern; aber
auch das ist noch ein lexikographisches Problem. Der Kern dieses
Zusammenhalts, die eine Enzyklopädie konstituiert, ist die Programmatik.
Ein Zusammenhang von Artikeln entsteht aus, durch und für die
Programmatik. Aus jedem Artikel der "Encyclopédie" trieft der
aufklärerische Wille; aus jedem Brockhaus-Artikel wird man vermutlich in
einer Inhaltsanalyse die Weltsicht der Moderne mit ihrer Fortschritts-
und Wissenschaftsgläubigkeit herausdestillieren können. Wikipedia ist
dagegen ein Sammelsurium von mehr oder weniger standpunktslosen
Einzelartikeln, ein Flickenteppich, der niemandem "Orientierung für die
Zukunft" (Brockhaus 1986) bieten könnte, wenn dies denn Programmatik der
Wikipedia wäre.
MfG -asb