At 11:33 Uhr +0100 4.1.2004, Matthias Zimmermann wrote:
Damit stellst
du unser ganzes System in Frage.
Auf keinen Fall, nur dessen Genese.
Es ist doch ein Unterschied, ob einer über die Regeln eines chinesischen
Ballspiel berichtet oder ob im Extremfall beschreiben wird, wie
selbstgemachter Tollkirschen Extrakt zur Warzenbehandlung eingesetzt
werden kann.
[Gefahr: Aufnahme von Alkaloiden durch die Haut oder bei der
Zubereitung].
Schlimmstenfalls macht dies noch jemand nach. D.h. es gibt so etwas wie
eine ethische Verantwortung für dieses Lexikon. Auch wenn man es evtl.
nicht einklagen kann.
Naja...ist ja auch nur mein ganz subjektiver Eindruck. Ich will euch
auch damit nicht nerven:-)
Das Wikipedia-Konzept hat sicher seine problematischen Seiten. Was Dir vorschwebt, wurde
vor einiger Zeit mit Nupedia versucht und darf wohl als gescheitert betrachtet werden. Da
gab es ein ausgeklügeltes System von qualifizierten Peer Reviews und Korrekturgängen und
den Anspruch, das Niveau wissenschaftlicher Veröffentlichungen zu erreichen, bzw. das
gedruckter Enzykopädien möglichst zu überbieten.
Das führte allerdings auch dazu, daß praktisch keine Artikel geschrieben oder übersetzt
werden konnten (zumindest nicht so, daß sie "ofiiziell" freigegeben wurden). So
wurde nie eine "kritische Masse" an Autoren, Artikeln und Nutzern erreicht und
wer, wie ich, mitgemacht hat, hat irgendwann frustriert das Handtuch geworfen. Dabei fand
ich es eigentlich sehr spannend, mich für eine Übersetzung in ein Gebiet zu vertiefen und
das alles mit Partnern solange gründlich durchzukauen, bis alle einverstanden waren.
Nupedia ist sicher der Gegenpol zu Wikipedia bei der Erstellung einer freien Enzyklopädie:
Hier dürfen nur Fachleute nach regelrechter Bewerbung Artikel veröffentlichen und auch nur
dann, wenn sie von drei anderen ausgewiesenen Fachleuten freigegeben sind, da kann jeder
schreiben, was er will - und für die Qualitätssicherung soll ein "evolutionärer
Prozeß" sorgen, die Korrektur und Ergänzung durch Nutzer, die es besser wissen (oder
zu wissen glauben).
Das Scheitern von Nupedia und der (zumindest quantitative) Erfolg von Wikipedia spricht
erst einmal für die freiere Variante. Ob deren Konzept der "evolutionären
Optimierung" funktioniert oder ein romantisches Mißverständnis ist, muß sich noch
zeigen.
Der Advocatus Diaboli würde die unausgesprochenen Prämissen der Wikipedia in Frage
stellen: Führt ein evolutionärer Prozeß automatisch zum Optimum oder nicht vielmehr
höchstens zu einem lokalen Maximum, was den Weg zum Optimum ohne massive äußere Einflüsse
unmöglich macht? Trifft es zu, daß Regeln der Evolution auf kulturelle Zusammenhänge
angewendet werden können und wenn ja, dient das der Wahrheitsfindung oder der Durchsetzung
von Gedanken, die sich im "Biotop" unseres Denkvermögens besonders gut
durchsetzen können? Schließlich: Werden sich auf Dauer bei einem Projekt wie Wikipedia die
informiertesten und qualifiziertesten beteiligen und dominieren oder die selbstsichersten
und durchsetzungsfähigsten?
Ich bin nicht dieser Advokat und wünsche mir, daß das Experiment Wikipedia sich positiv
entwickelt. Aber manchmal flüstert er mir ins Ohr.
Um auch noch ein paar konkrete Anmerkungen zu machen: Man wird davon ausgehen müssen, daß
90 % aller Besucher keinen Schimmer von Wikis, HTML, Tags usw. haben. Für Leute, die ihren
Computer als bessere Schreibmaschine betrachten, dürfte die Wikipedia-Site etwas durchaus
abschreckendes haben, dabei könnten sie durchaus qualifizierte Autoren sein. Auch für
Informationssuchende, denen das Konzept nicht vertraut ist, wird nicht klar, wie
verläßlich das ganze ist (läßt sich ja auch nicht generell sagen). Und sehr viele, die
inhaltlich etwas beisteuern könnten, werden lieber davon absehen, Tutorials zu wälzen und
sich Tags zu merken, als Artikel zu verbessern.
Mir fällt da auch keine Lösung ein, ich möchte nur darauf hinweisen. Ein erster Schritt
wäre vielleicht, auf der Startseite eine bessere Selbstdarstellung (inklusive der
Problematik) prominent zu positionieren und die elementaren Schritte zur Mitarbeit kurz zu
erläutern. Das geschieht zwar grundsätzlich schon jetzt, aber eben nur von Nerds für
Nerds. Kein gewöhnlicher Besucher wird bei einer dreizeiligen Selbstdarstellung acht Links
verfolgen, um zu erfahren, worum es eigentlich geht - er wird einfach nicht wiederkommen.
Da bleibt noch einiges zu tun.
Rainer