Erik Moeller wrote:
[ Fehlende Werkzeuge zum Erzeugen enzyklopädischer Kohäsion ]
Daraus dass wir bis auf ein paar Grundregeln keine Top-Down-Lemmaselektion betreiben, folgt nicht, dass wir keine Enzyklopädie sind, sondern dass wir eine *andere* Enzyklopädie sind.
Das Fehlen einer Top-Down-Lemmaselektion ist auch kein Exklusionskriterium, sondern ein Indiz für etwas, was in der Wikipedia prinzipbedingt nicht funktioniert; das Problem ist nicht der alternative Bottom-up-Weg, den die Wikipedia theoretisch einschlagen könnte, sondern daß dieser Kompensationsmechanismus derzeit vollkommen fehlt.
Ich bin ziemlich sicher, dass man kooperative Werkzeuge zu Gewährleistung von Kohäsion in einem Online-Nachschlagewerk entwickeln könnte; ob das aber in einem Wiki möglich ist, steht auf einem anderen Blatt. Ich glaube, der Einwand von Ward Cunningham ist sehr ernst zu nehmen...
[ Enzyklopädische Relevanzkriterien vs. Programmatik ]
Mag sein, aber nur weil der Brockhaus und die Encarta Sexualpraktiken, geheime CIA-Programme, Konzepte von Programmiersprachen, Inhalte von Science-Fiction-Serien usw. für weniger "lemmatisch ansprechend" halten als wir, folgt daraus nicht, dass wir uns weniger als Enzyklopädie bezeichnen dürfen, im Gegenteil.
Ja sicher, auch die Inhalte halte ich persönlich nicht für ein Exklusionskriterium; um ein heute noch vertretbares Verständnis von Wissen zugrunde zu legen, müsste man den "Kreis des Wissen" einer klassischen Enzyklopädie stark modifizieren, m.E. sogar nach einem radikal inklusionistischen Prinzip.
Was Wikipedia fehlt, ist aber die Programmatik, die in den ungeordneten Artikelhaufen einen Sinn bringt. Diese Programmatik ist es, die ein Nachschlagewerk zu einer Enzyklopädie macht und sie von einem Wörterbuch bzw. einem Lexikon unterscheidet.
Wenn man keine Programmatik haben will, sollte man aber auch nicht den Begriff Enzyklopädie verwenden, sondern einen pasenderen Begriff suchen oder erfinden.
Die Wikipedia kann derzeit prinzipbedingt aus verschiedenen Gründen keine Enzyklopädie sein. Zum einen ist prinzipbedingt nicht möglich, eine bestimmte Weltsicht als Interpretations- und Erklärungsraster zu definieren; NPOV ist ein formales Kriterium, aber keine Weltsicht wie "Christlich" bei den Enzyklopädien im Mittelalter oder "Aufklärerisch" bei der "Encylopédie" von Diderot und d'Alembert.
Damit setzt Du aber voraus, dass eine Enzyklopädie eine solche Weltsicht vertreten *müsse*. Dafür fehlt mir der Beweis.
Dann sage mir, was Du als Beweis akzeptieren würdest und erkläre mir, warin sich eine Enzyklopädie von einem Wörterbuch oder Lexikon unterscheidet. Advocatus diaboli: Warum heisst das Ding im Regal wohl "Metzler Philosophie Lexikon" und das von Hegel daneben "Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse"?
Die "Weltsicht", "Perspektive" oder "Ideologie" ist ein notwendiges Kriterium für eine Enzyklopädie. Das konstituierende Merkmal der Enzyklopädie, des Kreises des Wissens (gemeint ist natürlich *eines* bestimmten Wissensverständnisses), ist der Universalitätsanspruch, und dieser ist nur zu erreichen im Rahmen eines definierten und definierbaren (!) Weltbildes.
Eine solche Ideologie findest Du in *ausnahmslos* jeder Enzyklopädie; sie ist entweder inhärent auffindbar, wenn sie versteckt werden soll oder für den Leser der jeweiligen Zeit evident ist, oder explizit und programmatisch formuliert wie in der "Encyclopédie" im "Prospekt", der "Vorbemerkung" (Avertisement), der "Einleitung", der "Ankündigung" usw. Die zugrundeliegende "Odnung der Dinge" zeigt der Stammbaum des Wissens (Systême figuré des connoissances humaines), jeder Artikel wird durch einen dem Lemma angefügten Oberbegriff in diesem Stammbaum kategorisiert. Der "Stammbaum" der "Encyclopédie" unterscheidet sich an signifikanten Stellen von dem von Francis Bacon, also liegt hier eine im Vergleich zu Bacons "neuer Wissenschaft" zwar andere, aber programmatisch formulierte Weltsicht vor.
Der Brockhaus ist ein Produkt der Neuzeit, die hier vertretene Weltsicht ist die Ideologie der Moderne, die entsprechende Programmatik wurde in den Vorwörtern der jeweiligen Auflagen expliziert; Beispiel aus der 19. Auflage von 1986, die charakteristischerweise zunächst aus dem Vorwort zur 7. Auflage (!) zitiert: "[...] das Wissenswürdigste für allgemeine Bildung, aus dem Umfange der Wissenschaft, der Natur, der Kunst und des öffentlichen Lebens [...]; und weiter (nicht mehr zitiert aus der 7. Auflage): "Die Brockhaus Enzyklopädie beschreibt und erklärt die Welt von A bis Z; sie beantwortet Fragen an die Vergangenheit, unterrichtet über die Gegenwart und bietet dem Benutzer Orientierung für die Zukunft". Das Weltbild von Brockhaus schliesst also typische alternative Wissenskategorien aus ("verborgenes Wissen", mythisches Wissen, Dinge, die nicht als Kunst anerkannt sind, Trivialkultur usw.), also durch und durch das Weltbild der Moderne, wo der Brockhaus eben ideologisch steckengeblieben ist. Ausserdem will der Brockhaus "Orientierung für die Zukunft" bieten. Hat die Wikipedia eine vergleichbare Ideologie? Wo ist diese Programmatik formuliert? (Ob der versprochene Anspruch einer Enzyklopädie eingelöst wird, ist natürlich auch wieder eine ganz andere Frage)
Eine postmoderne Enzyklopädie gibt es bisher nicht, und ich bin mir auch nicht sicher, ob sie überhaupt möglich wäre, aber die Ansätze der Wikipedia würden m.E. geradezu ideal dazu passen (vgl. Lyotards Zustandsbeschreibung in der "Condition postmoderne").
Wikipedia kann keinen "Kreis" von Wissen bilden und daher keine Geschlossenheit erreichen, weil der ideologische Überbau fehlt
Diese Geschlossenheit ist bei NPOV dann gegeben, wenn alle relevanten Sichtweisen in einem Artikel enthalten sind und wohlmeinende Leser aller Weltanschauungen sich mit den entsprechenden Formulierungen einverstanden erklären können. Das ist immer noch ein Kreis, es ist nur ein sehr großer.
Nein, denn Deine Aussage bezieht sich sich nur auf die Mikrostruktur eines Wörterbuchs oder Lexikons. Eine Mikrostruktur für Enzyklopädien wurde m.W. nie normiert, sie ist daher m.E. nur von untergeordneter Bedeutung. Das, was eine Enzyklopädie ausmacht, ist der *Zusammenhang* zwischen den Artikeln (im Bereich der Makrostruktur) eines definierten und definierbaren Wissensraumes. NPOV reicht dafür nicht aus, weil NPOV naiverweise behauptet, summa summarum eine Sichtweise *ohne* Standpunkt darstellen zu können (was bedeutet "neutral" sonst als zu behaupten, letztlich *keinen* Standpunkt zu vertreten? NPOV ist also die Negation eines Standpunkts und über letzteren konstituiert sich nunmal eine Enzyklopädie).
Eine Enzyklopädie braucht Zusammenhalt zwischen den Artikeln, nicht nur isolierte "exzelllente Artikel"
Denke allein an die Navigationshilfen bei EU, OPEC & Co. - manche finden's nervig, aber real handelt es sich dabei um Strukturierungsversuche, wie sie bei uns ständig betrieben werden.
Nein, es geht hier nicht um Navigationsprobleme, sondern um den *intertextuellen* Zusammenhalt. Ein erster Schritt dahin wäre, dass alle Artikel, die auf [[Kommunikation]] verweisen, wirklich exakt auf das verweisen, was in [[Kommunikation]] steht. Das ist schon ein prinzipbedingtes Problem, weil Wikipedia eben ein Wiki ist, sich refernzierte Inhalte und Argumentationen also permanent ändern; aber auch das ist noch ein lexikographisches Problem. Der Kern dieses Zusammenhalts, die eine Enzyklopädie konstituiert, ist die Programmatik. Ein Zusammenhang von Artikeln entsteht aus, durch und für die Programmatik. Aus jedem Artikel der "Encyclopédie" trieft der aufklärerische Wille; aus jedem Brockhaus-Artikel wird man vermutlich in einer Inhaltsanalyse die Weltsicht der Moderne mit ihrer Fortschritts- und Wissenschaftsgläubigkeit herausdestillieren können. Wikipedia ist dagegen ein Sammelsurium von mehr oder weniger standpunktslosen Einzelartikeln, ein Flickenteppich, der niemandem "Orientierung für die Zukunft" (Brockhaus 1986) bieten könnte, wenn dies denn Programmatik der Wikipedia wäre.
MfG -asb
Agon S. Buchholz schrieb:
Die "Weltsicht", "Perspektive" oder "Ideologie" ist ein notwendiges Kriterium für eine Enzyklopädie. Das konstituierende Merkmal der Enzyklopädie, des Kreises des Wissens (gemeint ist natürlich *eines* bestimmten Wissensverständnisses), ist der Universalitätsanspruch, und dieser ist nur zu erreichen im Rahmen eines definierten und definierbaren (!) Weltbildes.
Ein Großteil dieser Diskussion scheint sich nur um Definitionen zu drehen. Aber das Schreiben einer Enzyklopädie (bspw. anstatt eines Lexikons) ist ja kein Selbstzweck. Die Frage, die gestellt werden müsste, ist doch: Wäre eine Wikipedia mit einer bestimmten Weltsicht nützlicher als eine ohne?
Eine postmoderne Enzyklopädie gibt es bisher nicht, und ich bin mir auch nicht sicher, ob sie überhaupt möglich wäre, aber die Ansätze der Wikipedia würden m.E. geradezu ideal dazu passen (vgl. Lyotards Zustandsbeschreibung in der "Condition postmoderne").
Pssst, nicht so laut Agon, ich beiß mir schon die ganze Zeit auf die Zunge. ;-) Aber gut, jetzt isses raus, ich denke auch, dass Wikipedia eine postmoderne Enzyklopädie ist, bzw. werden wird. Ohjeh, da werden jetzt einige aufschreien ...
Kurt (der mit weniger Kohärenz und dafür mehr Neutralität erstmal gut leben kann, weil das einfach nützlicher ist. Kohärenz kann der intelligente Leser zum Teil interpolieren (im Ggs. zur Neutralität), daran können wir später noch arbeiten.)
On Thu, May 27, 2004 at 01:04:12AM +0200, Agon S. Buchholz wrote:
Dann sage mir, was Du als Beweis akzeptieren würdest und erkläre mir, warin sich eine Enzyklopädie von einem Wörterbuch oder Lexikon unterscheidet. Advocatus diaboli: Warum heisst das Ding im Regal wohl "Metzler Philosophie Lexikon" und das von Hegel daneben "Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse"?
Könnte es vielleicht sein dass die beiden unterschiedliche Auffassungen von den Begriffen Enzyklopädie und Lexikon hatten?
Hat die Wikipedia eine vergleichbare Ideologie? Wo ist diese Programmatik formuliert? (Ob der versprochene Anspruch einer Enzyklopädie eingelöst wird, ist natürlich auch wieder eine ganz andere Frage)
Ja haben wir. Wissen für alle von allen. Ist es nicht eine Ideologie für die Freiheit von Wissen zu plädieren? Ist es nicht eine Ideologie jedem die Möglichkeit zu geben sein Wissen weiter zu geben?
ciao, tom
Thomas R. Koll wrote:
Hat die Wikipedia eine vergleichbare Ideologie? Wo ist diese Programmatik formuliert?
Ja haben wir. Wissen für alle von allen. Ist es nicht eine Ideologie für die Freiheit von Wissen zu plädieren? Ist es nicht eine Ideologie jedem die Möglichkeit zu geben sein Wissen weiter zu geben?
Ja sicher ist das eine Ideologie, d.h. ein Ideal, das macht daraus aber noch lange keine Programmatik, nach der man eine Enzyklopädie aufbauen könnte. Die Programmatik ist das Gerüst, an dem die Enzyklopädie errichtet wird, das sie und ihre Bestandteile zusammenhält und ihr einen Sinn gibt. Das Motiv für "Wissen für alle von allen" ist Sammeln um des Sammelns Willen, nicht für einen übergeodneten Zweck wie "Aufklärung".
Die Illusion "Wissen für alle von allen" (Wer ist "alle"? Der kleine und elitäre Personenkreis von Benutzern mit freiem Computer- und Internetzugang in hochindustrialisierten Gesellschaften?) würde, wenn das wirklich alles wäre, was die Wikipedia zu bieten hat, zwingend indizieren, das das Maximum, was die Wikipedia erreichen kann, ein großes Wörterbuch im klassischen Sinne (à la "Suda" (10./11. Jh.), "Dictionnaire des arts et des sciences" und "Dictionnaire universel géographique et historique" von Thomas Corneille, "Dictionnaire universel contenant généralement tous les termes de toutes les sciences et des arts" von Antoine Furetière (17. Jh.) usw.), d.h. ein Lexikon, ist. Auch wenn es noch so unbequem sein mag: Eine Nachschlagewerk ist nicht automatisch eine Enzyklopädie, und eine Enzyklopädie muss nicht notwendigerweise ein Nachschlagewerk sein.
MfG -asb
On Thu, Jun 03, 2004 at 03:56:22PM +0200, Agon S. Buchholz wrote:
Die Programmatik ist das Gerüst, an dem die Enzyklopädie errichtet wird, das sie und ihre Bestandteile zusammenhält und ihr einen Sinn gibt. Das Motiv für "Wissen für alle von allen" ist Sammeln um des Sammelns Willen, nicht für einen übergeodneten Zweck wie "Aufklärung".
Eher und der "Erhaltung des Wissen" willen.
Die Illusion "Wissen für alle von allen" (Wer ist "alle"? Der kleine und elitäre Personenkreis von Benutzern mit freiem Computer- und Internetzugang in hochindustrialisierten Gesellschaften?)
Es ist nicht unsere Schuld wenn nicht jeder an der WP mitschreiben kann, aber zumindest weisen wir keinen ab (ausser Vandalen) nur weil er uns zu arm ist. Und das "für alle" werden wir sicher auch bald noch verbessern wenn die Distribution von Wikipedia CDs/DVDs beginnt so wie es Jimbo im Sinn hat.
würde, wenn das wirklich alles wäre, was die Wikipedia zu bieten hat, zwingend indizieren, das das Maximum, was die Wikipedia erreichen kann, ein großes Wörterbuch im klassischen Sinne (à la "Suda" (10./11. Jh.), "Dictionnaire des arts et des sciences"
Ironischerweise heißt der Datenbankserver suda...
Mir kommt's so vor als streiten wir uns in dieser Diskussion um die Definition von Lexikon und Enzyklpädie, wie wäre es wenn wir uns stattdessen auf den Oberbegriff "Wissensquelle" einigen könnten?
ciao, tom
Mir kommt's so vor als streiten wir uns in dieser Diskussion um die Definition von Lexikon und Enzyklpädie, wie wäre es wenn wir uns stattdessen auf den Oberbegriff "Wissensquelle" einigen könnten?
Schlecht, da wir explizit mit dem Ziel angetreten sind, "Enzyklopädie" zu machen. Davon sollten wir nicht abrücken und anfangen, die Ansprüche zu verwässern...
Uli
Ulrich Fuchs schrieb:
Schlecht, da wir explizit mit dem Ziel angetreten sind, "Enzyklopädie" zu machen. Davon sollten wir nicht abrücken und anfangen, die Ansprüche zu verwässern...
Das nicht, aber es schadet sicher nicht von Zeit zu Zeit unvoreingenommen zu überlegen, was hier eigentlich genau entsteht. Alle Beteiligten sind schließlich der Meinung, an einer Enzyklopädie mitzuarbeiten.
Agnon schrieb:
Das sich die Wikipedia überall annonciert als Enzyklopädie würde das das Problem nicht lösen. Drei Möglichkeiten gibt es: [...] (3) Diskrepanzen ignorieren, weitermachen wie bisher und sich irgendwann ganz fürchterlich ungerecht behandelt fühlen, wenn irgendjemand man öffentlich feststellt, dass "Wikipedia" und "Enzyklopädie" nichts miteinander zu tun haben.
Solche Kritik gab es von Anfang an, aber das spannende ist doch, dass die allermeisten Leser und Autoren gar nicht auf die Idee kämen, dass es sich bei Wikipedia nicht um eine Enzyklopädie handeln könnte. Jeder einzelne Autor verwirklicht ein wenig seine eigene Vorstellung davon, wie eine ideale Enzyklopädie aussehen sollte; Jetzt die platonische Ideenlehre hervorzukramen und den Leuten zu erklären, das wahre Wesen einer Enzyklopädie wäre ein ganz anderes, bringt uns kein Stück weiter.
Wir schreiben eine Enzyklopädie, auch wenn dabei häufig unterschiedliche Vorstellungen von einer solchen aufeinander prallen. Vielleicht ist Wikipedia die erste Enzyklopädie ohne dahinterstehende Ideologie; Vielleicht ist es die erste postmoderne Enzyklopädie; Vielleicht ist es die erste Enzyklopädie einer neuen Art, und man wird in 100 oder 1000 Jahren ein ganz anderes Wort dafür finden - aber ist das in diesem Moment wichtig? Wir haben einen stabilen Grundkonsens über die Grundpfeiler des Projekts (Enzyklopädie, neutraler Standpunkt, Nachprüfbarkeit und GFDL), und diese haben sich in den letzten drei Jahren als sehr tragfähig erwiesen.
Die ewigen Kleinkriege um die Einführung weiterer "ideologischer Bestandteile" wird man nicht verhindern können, aber es ist mitlerweile zu spät selbige von oben zu verordnen, ohne eine Spaltung des Projektes zu provozieren. Ob sie von unten eingeführt werden können (begeleitet von einer lange andauernden Abwanderung statt einer abrupten Spaltung) bezweifle ich stark, will es aber auch nicht ausschließen.
Kurt
Thomas R. Koll wrote:
Die Programmatik ist das Gerüst, an dem die Enzyklopädie errichtet wird, das sie und ihre Bestandteile zusammenhält und ihr einen Sinn gibt. Das Motiv für "Wissen für alle von allen" ist Sammeln um des Sammelns Willen, nicht für einen übergeodneten Zweck wie "Aufklärung".
Eher und der "Erhaltung des Wissen" willen.
Auch das wäre Ein "Retro-Kriterium" aus dem vorletzten Jahrhundert. Archive und Bibliotheken machen das besser, ausserdem fände ich den Anspruch, Wissen in einer homogenisierten Form erhalten zu wollen recht zweifelhaft. "Erhaltung des Wissens" könnte aber ein legitimes Ziel von Wikipedia-Schwesterprojekten wie Wikisource sein.
Wichtiger: Das gegenwärtige Problem besteht nicht darin, Wissen zu "erhalten", sondern aus der Flut auszuwählen (Stichwort [[Informationsexplosion]] bzw. Wissensexplosion); die Wissenserzeugung gipfelt momentan in einem Berg von ungeordnetem und nicht-gewichtetem Wissen, weil aus dem "globalen Datenspeicher" (in Form von Publikationen in jeglichern Form) nichts gelöscht wird. In eine Programmatik für die Wikipedia übersetzt würde das mit Ulis exklusionistischem Standpunkt zusammenfallen ("Wir wählen das Wissen aus, das sie wissen {müssen|können|dürfen}"). Zumindest wäre das ein Ansatz für eine Programmatik, die ist aber erstens nicht konsensfähig und zweitens etwas ganz anderes, als es die Wikipedia mit ihrer Artikelmengenhatz derzeit verfolgt.
Das kannst Du ebenso durchdeklinieren mit anderen Versprechungen wie beispielsweise * "Zugänglichmachung" ("Wir machen Wissen verfügbar für alle", hat die bereits festgestellte Diskrepanz mit "alle"; die Gruppe jener "alle", die ohnehin schon Zugang zu einer öffentlichen Bibliothek haben ist größer als die mit Internet-Zugang); * "Internationalisierung" ("Wir globalisieren Wissen", tatsächlich gibt es kein wirklich internaionales, mehrsprachiges Lexikon; da die verschiedenen Sprachverseionen der Wikipedia aber kaum synchronisiert sind, wäre das auch ein ungünstiges Kriterium), * "Deökonomisierung" ("Wir machen den Zugang zu Wissen erschwinglich", es macht aber auch wenig Sinn, sich zum Aldi des Wissensmarktes aufzuschwingen, zumal man eine gebrauchte Encarta vom Vorjahr für ein paar Euro bekommt) * "Demokratisierung" ("Wir demokratisieren Wissen", das trifft vielleicht am ehesten den Punkt, mit allen (unbeabsichtigten) Konsequenzen wie vox populi, vox bovi).
Faktisch wird die Wikipedia zusammengehalten durch zwei explizite und ein implizites Kriterium, das ist (1) der NPOV und (bereits massiv abgeschwächt) (2) das halbherzige Bekenntnis zu freiem Wissen im Sinne der GNU FDL (wobei das in Wikipedias Vorzeige-Teilprojekt, der englischen Wikipedia, dank "fair use" für Bilder effektiv bestenfalls für Texte gilt) sowie (3) das implizite Kriterium der Demokratisierung der Wissensproduktion und -nutzung.
ad 1: NPOV taugt als konstitutives Kriterium für eine Enzyklopädie nichts (jedes zeitgenössische Lexikon und jedes Wörterbuch wird versuchen, einen neutralen Standpunkt zu beanspruchen; die Enzyklopädie ist ja gerade durch eine Ideologie gekennzeichnet).
ad 2: Wäre die Wikipedia konsequent nach Stallmans "Free-as-in-freedom"-Kriterien konstruiert, wäre das die Ideologie; da Stallmans Ideen, insbesondere in Bezug auf den offensiven Umgang mit nicht-verfügbarem Bildmaterial ("hier kann kein Bild wiedergegeben werden weil Corbis auf den Bildrechten sitzt..."), abgelehnt wurden, taugt das halbherzige Bekenntnis zu "ein bisschen Freiheit, aber..." nichts. Mit einem solchen Kriterium bei der etablierten Handhabung hätten wir von Anfang an verloren.
ad 3: Es verbleibt das Kriterium der Demokratisierung. Konstruieren wir die Wikipedia also als mal als "Enzyklopädie, die den Prozess der Wissensschaffung, -aggregation, -selektion und -distribution demoktratisiert"; demokratisieren definieren wir mal als "Partizipation einer autopoietisch konstituierten Gruppe" (also Leute, die sich selbst zusammenfinden und bestimmten Krierien genügen) und als Gegenpol zur monopolisierten, autoritäten, industriellen (Wissens-) Produktion. Dann kommen wir in Teufels Küche mit einem antidemokratischen Stammhalter (Jimbo) und den fundamentalen Zweifeln an demokratischen Prozessen in der Wikipedia; die Wikipedia verfügt m.E. bestenfalls über Fragmente demokratischer Prozesse, dieses Kriterium ist also summa summarum ebenfalls vollkommen untauglich.
Last but not least könnte man noch "Anarchisierung von Wissen" anführen. Das möge mal jeder selbst in seinen programmatischen Konsequenzen für eine Enzyklopädie durchspielen. Ich würde das für das valideste Krierium halten, es stünde aber diametral einem exklusionistischen Standpunkt entgegen, wäre radikal inklusionistisch und -- vor allem -- ist derzeit nirgends kodifiziert und vermutlich auch alles andere als konsensfähig.
Mir kommt's so vor als streiten wir uns in dieser Diskussion um die Definition von Lexikon und Enzyklpädie, wie wäre es wenn wir uns stattdessen auf den Oberbegriff "Wissensquelle" einigen könnten?
Das sich die Wikipedia überall annonciert als Enzyklopädie würde das das Problem nicht lösen. Drei Möglichkeiten gibt es: (1) Definition von Enzyklopädie verändern und Differenzen zu Wörterbuch und Lexikon verschleifen; (2) Programmatik im Sinne einer klassischen Enzyklopädie entwickeln und kodifizieren; (3) Diskrepanzen ignorieren, weitermachen wie bisher und sich irgendwann ganz fürchterlich ungerecht behandelt fühlen, wenn irgendjemand man öffentlich feststellt, dass "Wikipedia" und "Enzyklopädie" nichts miteinander zu tun haben.
MfG -asb
Seit einiger Zeit ist Wikipedia wieder extrem langsam (teilweise mehrere Minuten pro Seitenwechsel). Sind die neuen Kapazitäten schon wieder erschöpft?
Rainer
Rainer Zenz schrieb:
Seit einiger Zeit ist Wikipedia wieder extrem langsam (teilweise mehrere Minuten pro Seitenwechsel). Sind die neuen Kapazitäten schon wieder erschöpft?
Das ist wie mit den Autobahnen: Je mehr man baut, desto mehr Leute fahren Auto... Wie man unter http://download.wikimedia.org/ganglia3/ beobachten kann, sind die neuen Server häufig schon wieder am Limit, was zum Teil dem Leistungshunger der neuen Software und unserer steigenden Popularität geschuldet ist.
echoray
At 18:02 Uhr +0200 4.6.2004, Alwin Meschede wrote:
Das ist wie mit den Autobahnen: Je mehr man baut, desto mehr Leute fahren Auto... Wie man unter http://download.wikimedia.org/ganglia3/ beobachten kann, sind die neuen Server häufig schon wieder am Limit, was zum Teil dem Leistungshunger der neuen Software und unserer steigenden Popularität geschuldet ist.
Du nimmst es mir nicht übel, wenn ich aus download.wikipedia nicht wirklich schlau werde?
Interessanter finde ich den Leistungshunger. Worin liegt der begründet? In der Praxis ist von einer neuen Software ja kaum etwas zu spüren.
Rainer