Rainer Zenz schrieb:
Auch in solchen Fällen könnte man anders vorgehen. Gibt es z. B. klare Tutorials für das Schreiben von Unternehmensartikeln oder Artikeln zu Musikgruppen? Da kann man doch sehr konkret Schritt für Schritt beschreiben, was zu tun und was zu unterlassen ist, was hineinmuss und was nicht. Dazu zwei Musterartikel Falsch/Richtig. Darauf kann man die Leute als ersten Schritt hinweisen und dem Artikel ein passendes Bapperl verpassen. Macht wenig Arbeit und gibt den Leuten die Chance zur Überarbeitung und zum Verständnis der grundlegenden Wikipedia-Ziele. Alles als freundliche Hilfestellung, nicht als garstige Abwehrreaktion und Überforderung. Wenn dann keine positive Reaktion und Verbesserung kommt bleiben immer noch die üblichen Instrumente.
Man könnte solche speziellen Tutorials für alle typischen Problemfälle anlegen und routinemäßig als ersten Schritt einsetzen. Niemand, auch keine beauftragte Sekretärin und kein Musikfan, möchte beim ersten Versuch der Mitarbeit abgebügelt und mit Vorschriften erschlagen werden. Wer als erstes so behandelt wird, hat auf Dauer ein negatives Bild von der Wikipedia. Solchen Imageschaden können wir nicht wollen.
Dauerhafte und qualifizierte Autoren wachsen nicht auf Bäumen. Sie müssen herangebildet oder angelockt werden. Sie werden heute aber genauso abgeschreckt wie besagte Sekretärin, vielleicht auf andere Weise. Gestiegene Qualitätsansprüche hin oder her, es möge sich jeder an seine eigenen Wikipedia-Anfänge erinnern. Und es sind nicht nur die Ansprüche gestiegen, es hat sich auch der schon immer gewöhnungsbedürftige Umgangston verschärft, der Metabereich wurde immer undurchschaubarer.
Das Projekt lebte (und tut es immer noch) vom Enthusiasmus, mit den eigenen bescheidenen Mitteln am Aufbau einer großen Sache mitwirken zu können. Das war vor nicht allzu langer Zeit neu und einmalig. Wer heute dazukommt, spürt und sieht diesen Enthusiasmus aber nicht mehr, wenn er ihn naiverweise mitbringt, wird er ihm in kürzester Zeit abgewöhnt. Ich fürchte, auf Neueinsteiger wirkt die Wikipedia oft wie eine Mischung aus kafkaesker Riesenbehörde und vorzeitlicher Stammesgesellschaft.
Dazu hat sich die Lage für Neueinsteiger auch durch den schlichten Umfang der Wikipedia völlig geändert. Das Erfolgserlebnis, eine Lücke durch einen eigenen Artikel füllen zu können, gibt es nur noch in eher exotischen Bereichen. Einen bestehenden Artikel umzuschreiben, muss man sich erst mal trauen, das Risiko dabei in ein Wespennest zu stechen ist nicht gering.
Wenn wir wollen, dass ungeschickte Anfänger wie auch qualifizierte Autoren ermutigt werden und sich einarbeiten können, muss sch bei uns kulturell und strukturell eine Menge ändern. Wir müssen die Leute wirklich einladen, nicht nur scheinbar, um sie dann hochkant rauszuwerfen. Wir müssen gute Lernangebote und Entfaltungsmöglichkeiten für Neulinge schaffen. Wir müssen den ganzen Laden transparenter machen, den ganzen Metabereich straffen und ordnen. Wir müssen dringend am Betriebsklima arbeiten. Die Wikipedia ist groß geworden, weil es Spaß gemacht hat und befriedigend war, freiwillig an einem wunderschönen Projekt und Experiment teilzunehmen. Davon ist - bei aller mittlerweile entstandenen Verantwortung - heute viel zu wenig zu spüren. Das macht uns garstig und schreckt Neulinge, Dilettanten wie Fachleute ab.
Gruß, Rainer
WikiDE-l mailing list WikiDE-l@lists.wikimedia.org https://lists.wikimedia.org/mailman/listinfo/wikide-l
ja, schon - aber was nützt das ganze, wenn am Ende ein wunderschöner Artikel über ein Unternehmen bar jeder Relevanz herauskommt? Deshalb wird ja auch in [[WP:DEA]] usw. immer darauf hingewiesen, dass man zuerst die Relevanz abklären und dann erst schreiben sollte - leider liest das aber niemand. (Bzw. die Leute lesen es, kümmern sich aber nicht darum - sei es, dass sie rein emotional nicht mit der "Irrelevanz" ihres Themas leben können, sei es, dass sie nun einmal diese Aufgabe bekommen haben und nun schlecht zu ihrem Chef gehen können und sagen: "Tut mir leid, aber unsere Klitsche ist nun mal irrelevant"). Deswegen: Sicher ist der Umgangston in der Löschdiskussion verbesserungsfähig - besser wäre es aber, wenn es gar nicht zur Löschdiskussion käme, weil der Autor im Vorwege sieht, dass das Thema keine Chance hat. Es sei denn, man verfolgt den Ansatz: "Wir nehmen diskussionslos alles", aber den halte ich, auch wenn er immer gern wieder - und speziell von außen - an Wikipedia herangetragen wird, für indiskutabel und auch - glücklicherweise - für in der Community nicht durchsetzbar. Am allerbesten ist es natürlich, wenn dabei ein guter Artikel über ein interessantes Thema herauskommt - aber über diese Art von Artikeln reden wir ja nicht und da gibt es ja auch wenig Streit (zumal, da hast du ganz recht: Zu diesen Themen gibt es ja in aller Regel schon einen Artikel).
Außerdem: die meisten dieser von mir beschriebenen "Selbstdarsteller" wollen ja gar nicht Autoren werden und werden es auch bei aller Betreuung nicht, wie das Mentorenprogramm zeigt. Die wollen ihren Artikel (und damit die undankbare Aufgabe, die ihnen ihr Chef aufgehalst hat) loswerden und gut. Am liebsten hätten die eine "Artikelabgabestelle" oder Redaktion (viele davon verwechseln das OTRS mit einer derartigen Redaktion), wo sie - auch gerne gegen Geld - diesen "ihren" Artikel in Auftrag geben können. Und da sie sich im Grunde nicht die Bohne für Wikipedia interessieren, haben sie natürlich auch keine Ahnung von deren (in der Tat mittlerweile ausufernden) Mechanismen. Müssen sie ja auch nicht haben - aber wie überall in dieser Welt: Man muss ja nicht mitmachen - man muss ja beispielsweise auch nicht in den ADAC eintreten, wenn einem die Organisationsstruktur des ADAC nicht gefällt.
Insofern - wie gesagt - wir sollten uns schon bemühen, gute neue Autoren heranzuziehen, aber wir sollten schon darauf achten, dass wir die richtigen bekommen - es steht ja deshalb auch "Gute Autorinnen und Autoren sind stets willkommen" auf der Hauptseite - was ja wohl heißt: Autorinnen/Autoren, die zum Projekt beitragen, sind willkommen, solche, die nur Arbeit machen, sind nicht willkommen. Ich halte nach wie vor das Vorspiegeln einer prinzipiellen Offenheit für alle und alles für das falsche Signal und für den eigentlichen Grund der Frustration. Wenn man von vorn herein weiß, dass man mit Turnschuhen nicht in die Disko gelassen wird, dann ist das vielleicht blöd, aber eine klare Ansage und weitaus weniger frustrierend, als wenn man erst reingelassen wird, sich einen Drink bestellt, und dann nach einer halben Stunde jemand ankommt und sagt: "Eh Alter, du hast Turnschuhe an, du musst hier raus..:"
Gruß Reinhard