Am 27.11.2009 um 23:45 schrieb Reinhard Kraasch:
Der Normalfall - so wie ich ihn wahrnehme - sieht eher so aus:
[...]
Trotzdem glaube ich nicht, dass Wikipedia (will sagen: unseren Lesern) ein Schaden entsteht, wenn diese Art von Autoren wegbleibt (was man im übrigen nicht befürchten muss, mit steigender Bekanntheit wird Wikipedia immer mehr als Werbemedium wahrgenommen - der Strom an Praktikanten und Sekretärinnen, die gesagt bekommen: "Nun schreib doch mal einen Artikel über [...] in Wikipedia" wird so schnell nicht abreißen, wir sollten uns eher den Kopf zerbrechen, warum wir so vergleichsweise wenige dauerhafte und qualifizierte Autoren in den enzyklopädischen Kernbereichen haben).
Auch in solchen Fällen könnte man anders vorgehen. Gibt es z. B. klare Tutorials für das Schreiben von Unternehmensartikeln oder Artikeln zu Musikgruppen? Da kann man doch sehr konkret Schritt für Schritt beschreiben, was zu tun und was zu unterlassen ist, was hineinmuss und was nicht. Dazu zwei Musterartikel Falsch/Richtig. Darauf kann man die Leute als ersten Schritt hinweisen und dem Artikel ein passendes Bapperl verpassen. Macht wenig Arbeit und gibt den Leuten die Chance zur Überarbeitung und zum Verständnis der grundlegenden Wikipedia-Ziele. Alles als freundliche Hilfestellung, nicht als garstige Abwehrreaktion und Überforderung. Wenn dann keine positive Reaktion und Verbesserung kommt bleiben immer noch die üblichen Instrumente.
Man könnte solche speziellen Tutorials für alle typischen Problemfälle anlegen und routinemäßig als ersten Schritt einsetzen. Niemand, auch keine beauftragte Sekretärin und kein Musikfan, möchte beim ersten Versuch der Mitarbeit abgebügelt und mit Vorschriften erschlagen werden. Wer als erstes so behandelt wird, hat auf Dauer ein negatives Bild von der Wikipedia. Solchen Imageschaden können wir nicht wollen.
Dauerhafte und qualifizierte Autoren wachsen nicht auf Bäumen. Sie müssen herangebildet oder angelockt werden. Sie werden heute aber genauso abgeschreckt wie besagte Sekretärin, vielleicht auf andere Weise. Gestiegene Qualitätsansprüche hin oder her, es möge sich jeder an seine eigenen Wikipedia-Anfänge erinnern. Und es sind nicht nur die Ansprüche gestiegen, es hat sich auch der schon immer gewöhnungsbedürftige Umgangston verschärft, der Metabereich wurde immer undurchschaubarer.
Das Projekt lebte (und tut es immer noch) vom Enthusiasmus, mit den eigenen bescheidenen Mitteln am Aufbau einer großen Sache mitwirken zu können. Das war vor nicht allzu langer Zeit neu und einmalig. Wer heute dazukommt, spürt und sieht diesen Enthusiasmus aber nicht mehr, wenn er ihn naiverweise mitbringt, wird er ihm in kürzester Zeit abgewöhnt. Ich fürchte, auf Neueinsteiger wirkt die Wikipedia oft wie eine Mischung aus kafkaesker Riesenbehörde und vorzeitlicher Stammesgesellschaft.
Dazu hat sich die Lage für Neueinsteiger auch durch den schlichten Umfang der Wikipedia völlig geändert. Das Erfolgserlebnis, eine Lücke durch einen eigenen Artikel füllen zu können, gibt es nur noch in eher exotischen Bereichen. Einen bestehenden Artikel umzuschreiben, muss man sich erst mal trauen, das Risiko dabei in ein Wespennest zu stechen ist nicht gering.
Wenn wir wollen, dass ungeschickte Anfänger wie auch qualifizierte Autoren ermutigt werden und sich einarbeiten können, muss sch bei uns kulturell und strukturell eine Menge ändern. Wir müssen die Leute wirklich einladen, nicht nur scheinbar, um sie dann hochkant rauszuwerfen. Wir müssen gute Lernangebote und Entfaltungsmöglichkeiten für Neulinge schaffen. Wir müssen den ganzen Laden transparenter machen, den ganzen Metabereich straffen und ordnen. Wir müssen dringend am Betriebsklima arbeiten. Die Wikipedia ist groß geworden, weil es Spaß gemacht hat und befriedigend war, freiwillig an einem wunderschönen Projekt und Experiment teilzunehmen. Davon ist - bei aller mittlerweile entstandenen Verantwortung - heute viel zu wenig zu spüren. Das macht uns garstig und schreckt Neulinge, Dilettanten wie Fachleute ab.
Gruß, Rainer