Am Mittwoch, 30. November 2005 20:23 schrieb Agon S. Buchholz:
Was Du m.E. einfach nicht sehen willst ist, dass enzyklopädisches relevantes Wissen möglicherweise genau das sein könnte, was Benutzer in der Wikipedia hinterlassen, zu hinterlassen versuchen oder eben nachschlagen.
Das sehe ich in der Tat nicht. Enzyklopädisch relevantes Wissen ist das, was Benutzer in der Wikipedia *nachschlagen* (wollen). Punkt. Und das ist nicht zwangsläufig das, was die aktuelle Community in der Wikipedia hinterlässt oder zu hinterlassen versucht. Wenn beides übereinstimmte, würde ich Dir völlig recht geben: Das wäre ja genau die Idee, warum eine Wiki-Enzyklopädie funktioniert. Was Du übersiehst, ist, dass es bestimmte Zustände gibt, in denen die Zusammensetzung der "Wissens-Hinterlasser" nicht mit der Zusammensetzung der "Wissens-Nachfrager" übereinstimmt. Dann passiert genau das, was mit der Wikipedia passiert: Der nicht-abgedeckte Teil der Nachfrager wendet sich ab und wird eben nicht Wissens-Hinterlasser. Somit stabilisiert sich das System bei dem Wissen, das zu diesem Zeitpunkt für diese Community relevant war. Wikipedia ist daher heute eine gute Enzyklopädie der Populärkultur des nerdig/geekigen Bevölkerungsanteils, und ein ganz brauchbares Nachschlagewerk für Grundbegriffe in den Bereichen Naturwissenschaften und Mathematik/Informatik. So lange man nur den jeweils ersten Absatz der Artikel liest. Für den geistes-kulturwissenschaftlichen Bereich findet sie kaum Autoren, und über die Gründe nachzudenken würde sich schon mal lohnen.
Wissen ist per Definition biografisch gebunden und kann daher nicht als absolut gültige Entität erscheinen. Platt gesagt, eine ernst gemeinte Enzyklopädie wird nicht den Anspruch erheben können, wie die zehn Gebote von einem Gott als absolutes Wissen gnadenvoll erteilt worden zu sein, sondern muß etwas mit den Wissensbedürfnissen der Benutzer zu tun haben.
Richtig. Aber jetzt stellst Du auch wieder auf die Nachfrager-Seite ab.
Wenn Wikipedia-Benutzer beispielsweise nur nach [[Sex]] nachschlagen würden (was nicht der Fall ist), wäre das m.E. ein Informationsbedürfnis, das man sehr ernst nehmen und nicht als Schmuddelkram aus der Welt reden wollen sollte.
Gebe ich Dir auch recht. Wenn Wikipedia aber - wie die englischsprachige - zu jedem Porno-Starlet eine Biografie liefert, die länger ist als die von Goethe (nicht geprüft), kommuniziert sie damit eine bestimmte Ausrichtung, wird zur Spezial-Enzyklopädie. Und damit kuckt man eben nur noch rein, wenn man wissen will, wie Knocka La Granda zu ihrem Vorbau kam. Und schreibt halt auch entsprechende Artikel.
In diesem Punkt, nämlich dass enzyklopädisch relevant nur das sein kann, was Leute auch wissen wollen, irrt sich m.E. auch Blocklaus ganz fatal;
Was wäre es sonst? Was Leute nicht wissen wollen? Brockhaus und meine Wenigkeit (und viele andere auch) sehen eine Enzyklopädie heute als Arbeitsmittel, nicht als Selbstzweck. Sogar als vom Nutzwert unabhängiges aufklärerisches Projekt verstanden müsste sich die Wikipedia an die Nase packen, wenn sie Halbwissen transportiert. Ich verstehe ehrlich gesagt nicht, welchen Sinn Dein Verständnis von einer Enzyklopädie als Grablege von Texten hat, die irgendwen irgendwann mal interessiert haben aber für alle anderen ohne Belang sind?
m.W. wird dort viel zu wenig Benutzerforschung betrieben, wan weiß nicht wirklich, was die Benutzer wissen wollen, und ich habe den Verdacht,
Doch, ich denke mal, man weiß das sehr genau.
dass man es eigentlich auch gar nicht wissen will -- Blocklaus will schließlich seine Weltsicht verbreiten, auch das ist seit Jahrhunderten
Nein, Brockhaus will seine Bücher verkaufen und damit Geld verdienen.
Programmatik von Enzyklopdie, und dieses Prinzip wird erstmals in der Geschichte von Wikipedia ansatzweise auf den Kopf gestellt.
Das war seit mindestens 50 Jahren nicht mehr Programmatik der Enzyklopädie, insofern hat Wikipedia da gar nix auf den Kopf gestellt.
Nach welchen (m.E. sehr unlauteren und ziemlich unwissenschaftlichen) Kriterien die Konstruktion der Weltsicht à la Blocklaus geschieht, hat uns doch kürzlich erst Mathias wieder demonstriert am Beispiel der in Blocklaus-Publikationen munter mutierenden Beiträge zu "Wikipedia" und "Enzyklopädie".
s.o. Die Programmatik ist, Bücher zu verkaufen. q.e.d. Dass dabei der fachliche Anspruch dem marketingtechnischen untergeordnet wurde, halte ich für einen schweren und leider managementtypischen Fehler.
Was manch einer für "enzyklopädisch relevant" halten mag, ist ein Wissensverständnis, das von Akteurern wie dem BIFAB unter Ausschluß der Wissensnachfrager ankonditioniert wurde und somit nicht allzu weit vom Pawlowschen Reflex entfernt ist - weil es leider allzu unreflektiert ist.
Da magst Du sicher Recht haben. Man muss durchaus aufpassen, dass man nicht die Zeit verschläft. Dennoch glaube ich, dass man einen Themenraster bauen kann, bei dem unterschiedliche Bereiche unterschiedlich detailliert abgehandelt werden. In dreißig Bänden kriegt man viel unter, im Web noch mehr. Nur eben auch dort nicht unbegrenzt viel: Das Wissen hat immer ein Findeproblem. Und das kriegt man nicht mit Technik in den Griff, die aus einem großen Textkorpus das richtige rauszieht (auch google wird zunehmend unbrauchbar), sondern nur mit unterschiedlichen Textkorpi für unterschiedliche Zwecke. Und somit stellt sich für jedes Textwerk, auch die Wikipedia, die Frage, für welchen Zweck sie denn da ist. Die Frage hat sie meines Erachtens bis heute nicht richtig beantwortet.
Uli