Hallo Liesel,
zunächst einmal vielen herzlichen Dank dafür, dass Du diese Diskussion
initiiert hast. Ich glaube, sie kommt zu einem sehr guten Zeitpunkt.
Erik Zachtes Statistik zu den "New wikipedians" beobachte ich schon
eine ganze Weile und ich mache mir schon seit geraumer Zeit Gedanken,
wie die Zahlen zu interpretieren sind. Hier meine ganz persönliche
Einschätzung, die auf der Grundannahme beruht, dass alle
Wikipedia-Sprachversionen in ihrer Geschichte verschiedene, deutlich
voneinander abgrenzbare Entwicklungsstadien durchlaufen. Meine
Hypothese ist, dass diese Entwicklungsstadien in ihrer Art und in
ihrem ungefähren Verlauf für alle Wikpedia-Versionen gelten und dass
die Analyse der Entwicklung reiferer Sprachversionen Rückschlüsse auf
diejenige jüngerer Wikipedien erlaubt.
(1) Das erste Entwicklungsstadium einer Wikipedia-Sprachversion würde
ich persönlich wie folgt beschreiben (ich war nicht dabei - vielleicht
können Kurt, Magnus oder andere Urgesteine meine Darstellung ja etwas
mit Informationen unterfüttern):
Die Community ist verschwindend gering und besteht aus Personen, die
mehr oder minder zufällig auf die Wikipedia gestoßen sind. Diese
"ersten Aktivisten" sind hochmotiviert, kommen zumeist aus dem Open
Source-Umfeld oder sympathisieren stark mit dessen Zielen.
Im ersten Entwicklungsstadium gibt es so gut wie keine Regeln. Es
herrscht kreatives Chaos. Das spielerische Ertasten zukünftiger
Richtungen und Wege steht im Vordergrund. Vieles, wenn nicht gar alles
ist konsensbasiert.
Der Nutzwert der Inhalte ist verschwindend gering. In der
Öffentlichkeit ist Wikipedia kaum bekannt.
(2) Darauf folgt das zweite Entwicklungsstadium:
Es ist von einem starken Anstieg in der Zahl der regelmäßig
beitragenden Autoren geprägt. Ursache für einen solchen Anstieg ist
häufig ein verstärktes Interesse überregionaler Presseorgane an dem
Phänomen Wikipedia. Im Falle der deutschsprachigen Wikipedia ist hier
der berühmte Spiegelartikel "Rapunzel bis Regenzeit" (Spiegel 10/2004)
zu nennen, in dessen Folge die Zahl der neuen Autoren im März 2004 von
540 auf 1.340 explosionsartig anstieg und von dem manche
Wikipedia-Veteranen noch heute am Kaminfeuer erzählen.
Im Bereich der inneren Wikipedia-Regularien wird durch das Anwachsen
der Autorenschaft ein starker Handlungsdruck aufgebaut. Und es ist in
diesem Zusammenhang für "unsere" Sprachversion kein Zufall, dass die
Seite [[Wikipedia:Relevanzkriterien]] genau im April 2004, also einen
Monat nach dem Spiegel-Schock angelegt wurde.
Was den Nutzwert der Inhalte angeht, so entwickelt die Community
langsam den Willen und die Fähigkeit, gestalterisch auf die Qualität
Einfluss auszuüben. Dabei entstehen Institutionen wie der
Schreibwettbewerb, der nicht nur qualitativ hochwertige Inhalte
hervorbringt, sondern der Community auch erstmals die Gelegenheit
gibt, die beiden Themen "Qualität" und "Wikipedia" in der öffentlichen
Wahrnehmung miteinander zu verknüpfen (etwa durch erste
Pressemitteilungen).
(3) Das dritte Entwicklungsstadium ist ein Stadium der Verstetigung
und der beginnenden Arbeitsteilung:
Die Zahl der sehr aktiven Wikipedianer steigt nicht mehr signifikant
an und viele Autoren der ersten Generation ziehen sich fast
vollständig auf die "Funktionärsebene" (Verein) zurück. Zugleich nimmt
auf Autorenebene die Arbeitsteilung zu: Es gibt nun Wikipedianer, die
sich allein auf die Kontrolle der letzten Änderungen und andere
Meta-Bereiche konzentrieren und andere, die nichts anderes tun, als
Artikel zu schreiben. Beide Gruppen versuchen "ihre" Kandidaten bei
Adminkandidaturen durchzubringen ("Der schreibt ja gar keine Artikel"
vs. "Nie in der Löschhölle gesehn").
Die internen Regeln verfestigen sich immer mehr. Wo früher noch
einvernehmlich im Konsens entschieden wurde, dominieren nun
Abstimmungen. Die sogenannten "Meinungsbilder" gab es zwar schon
früher, aber nie zuvor nahmen sie aber soviel Raum ein.
In der Öffentlichkeit wird die Wikpedia nach dem Abklingen der
Anfangseuphorie nun immer häufiger kontrovers diskutiert. Dass es das
"Enzykopädieprojekt Wikpedia" gibt und das viele Menschen davon
fasziniert sind, ist keine Meldung mehr wert. Aber dass Wikipedia ein
Massenphänomen geworden ist und gleichzeitig die Qualität der Inhalte
noch nicht perfekt ist - das ist schon etwas, worüber die Presse immer
lauter nachdenkt. In der Community selber setzt - was nur auf den
ersten Blick paradox erscheinen mag - ein retardierender Effekt ein:
Bei den Exzellenzkandidaten werden allzu lange Artikel nun als
"unlesbar" abgestraft; "zu viele Fußnoten" wird zum KO-Kriterium.
(4) Das vierte Stadium:
Die Zahl der sehr aktiven Autoren pendelt sich auf einem festen Level
ein. Der Kreis der regelmäßig aktiven Mitarbeiter ist geschlossener
als jemals zuvor. Sie treffen sich immer häufiger im Real-Life und in
der Wikipedia selbst haben sie sich ihre eigene Welt geschaffen. Diese
Welt ist zu einem hohen Maße durch eine eigene Sprache konstruiert.
Wer nicht weiß, was "ELW" oder "WP:WSGAA" bedeutet, ist
ausgeschlossen. Neulinge werden zunehmend als störend empfunden.
Besonders wichtig hierbei ist, dass dies alles von den Akteuren selbst
nicht wahrgenommen wird. Sie merken nicht, dass ihre Gespräche auf
Stammtischen von Außenstehenden gar nicht mehr verstanden werden und
sie sich immer stärker abschotten (gab's im übrigen schonmal, hieß
damals "CB-Funker").
Die Regeln sind weitestgehend erstarrt; zusätzlich werden
Institutionen wie das "Schiedsgericht" geschaffen, die die
Verwaltungsebene weiter formalisieren.
In der Öffentlichkeit hat sich Wikipedia als das "Leitmedium des 21.
Jahrhunderts" (FAZ) durchgesetzt. Sie ist zu einer Instanz geworden
und immer mehr Menschen fangen an zu begreifen, dass das Prinzip der
Offenheit am Ende doch qualitativ hochwertige Inhalte hervorzubringen
vermag. Ausreichend Medienkompetenz vorausgesetzt, ist Wikipedia zu
einem alltagstauglichen Begleiter geworden, den niemand mehr missen
möchte (ablesbar unter anderem in der Erreichung des Spendenziels im
gerade abgeschlossenen Funddrive).
Nun nochmal zurück zur Eingangsfrage: Warum sinkt die Zahl der neuen
Autoren in der deutschsprachigen Wikipedia?
Aus meiner persönlichen Erfahrung (Stichwort "Wikipedia-Workshops")
kann ich darauf nur antworten: Weil neue Autoren es zunehmend schwerer
haben, in einer inhaltlich gesättigten Wikipedia der Entwicklungsstufe
4 Felder zu finden, bei denen sie sich sinnvoll einbringen können.
Otto Normalnutzer interessiert sich nunmal vor allem für
Mainstream-Themen. Und wenn er sich die Artikel über Modelleisenbahnen
und Digitalfotografie anschaut, dann hat er nicht im Ansatz das
Gefühl, dass hier noch viel Arbeit auf ihn wartet (das war in Phase 1
und 2 noch ganz anders). Im Gegenteil: je weiter eine Sprachversion
entwickelt ist, umso mehr Selbstvertrauen bedarf es, zum ersten mal
auf den "Bearbeiten"-Knopf zu klicken.
Und noch etwas anderes ist aus der Statistik von Erik Zachte meiner
Ansicht nach ablesbar: Anders als etwa in der französischsprachigen
Wikipedia bricht in der deutschsprachigen die Zahl der neuen Autoren
insbesondere ab Mai 2008 dramatisch ein. Also genau zu dem Zeitpunkt,
als die "Gesichteten Versionen" in der deutschsprachigen Wikipedia
aktiviert wurden. Nun finde ich persönlich die grundlegende Idee
hinter diesem Softwarefeature gut und ich verrichte auch brav meine
allwöchentliche Sichterarbeit, indem ich mit dem Tool von Magnus alle
ungesichteten Artikel des Themenfeldes "Frühe Neuzeit" durchgehe. Aber
wenn diese Funktion schon im Herbst 2004 angeschaltet gewesen wäre
(als ich meinen ersten IP-Edit hatte), dann wäre ich womöglich auch
abgeschreckt worden. Ich persönlich glaube, dass das Sichtungsfeature
die anderen Phänomene des vierten Entwicklungsstadiums noch verstärkt.
So, und jetzt entschuldige bitte meine über die Gebühr lange Antwort.
Ich freue mich auf die weitere Diskussion.
Herzliche Grüße aus Kalifornien
Frank