Artikel am 16.02.2004 in der Berliner Zeitung
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Datum: 16.02.2004 Ressort: Medien Autor: Hans Christof Wagner Seite: 34
Diderots Enkel
Das Online-Lexikon Wikipedia wächst von Tag zu Tag. Jeder kann daran mitarbeiten
Der "Knüppelkrieg" zwischen Berlin und Spandau wartet noch auf einen Bearbeiter. Wer weiß, was sich 1567 zwischen den damals noch getrennten Städten zugetragen hat, kann die Internet-Seite www.wikipedia.de aufrufen und sein Wissen weitergeben. "Warum, um Gottes willen, soll ich mich an der Wikipedia beteiligen?", wird auf der Website rhetorisch gefragt? Die Antwort: "Weil es Spaß macht, sein Wissen zu teilen". Von dieser schlichten Botschaft lassen sich immer mehr anstecken. Die deutsche Version hat bereits mehr als 50 000 Beiträge, das amerikanische Original (www.wikipedia.org) bringt es sogar auf 200 000 Artikel.
Wikis, was im polynesischen "schnell" heißt, sind frei verfügbare Seiten, mit deren Hilfe sich Dokumente ohne Kenntnisse irgendwelcher Programmiersprachen direkt auf der Webseite der Wikipedia speichern lassen: anonym oder mit Benutzernamen. Es gibt keine Autorschaft oder Oberhoheit über einen Artikel. Es winken weder Honorar noch Reputation. Jeder kann, darf und soll alles und jedes ändern. "Wikis funktionieren nicht, wenn die Leute nicht mutig sind. Zieh los, korrigiere den Rechtschreibfehler, füge jenen Aspekt hinzu, präzisiere die Sprache", fordert man auf der deutschen Wikipedia-Seite auf.
Trotzdem wird da weder gnadenlos attackiert, polemisiert, noch finden konzertierte Löschangriffe statt. Es herrscht gepflegter Akademikerdiskurs: "Du hast meinen Artikel über Ultramontanismus vom Präsenz in den Imperfekt gesetzt", schreibt ein Autor und verweist den Korrektor im nächsten Satz duldsam auf ein Handbuch der korrekten Tempusverwendung. Was geändert wird, verschwindet auch nicht, sondern bleibt gespeichert. So lässt sich die Entwicklung jeder Seite im Detail zurückverfolgen, bis zur aller ersten Version.
Und dann gibt es noch die Seite "Diskussion", wo Änderungen und Kritikpunkte debattiert werden können. Wer die Löschung einer Seite für richtig hält, kann den Eintrag auf die Seite "Löschkandidaten" setzen: wenn er Regelverstöße des Autors sieht, beispielsweise Urheberrechtsverletzungen, grobe Unwahrheiten oder nicht nachprüfbare Informationen. Dabei kommen Wertungen oder Polemiken nur vereinzelt vor, auf Wikipedia herrscht ein neutraler Lexikonstil.
Zwar wird man über einiges sicherlich streiten können, etwa ob Marx Hauptwerk, neben dem "Kapital", wirklich die "Kritik des Gothaer Programms" der deutschen Sozialdemokratie war. Reichlich hölzern und dilettantisch ist auch der Beitrag über die Französische Revolution geraten. Dort erfährt der Interessierte, dass es 1789 darum gegangen sei, dass nicht "nur einer Rechte haben sollte, sondern das ganze Volk."
Überhaupt ist noch vieles sehr rudimentär, in einem aber ist das Online-Lexikon unschlagbar: die Verlinkung der Seiten. Zu jedem Eintrag gibt es Literaturhinweise und Verweise auf andere Webseiten. Und noch etwas hat Wikipedia gedruckten Lexika voraus: die Aktualität. Tauchen Begriffe wie "Vogelgrippe" oder "Marssonde" in den Nachrichten auf, kann man sicher sein, dass in der Wikipedia schon etwas darüber steht.
"Das, was wir möglicherweise mit der Wikipedia gerade ins Rollen bringen, könnte in der Tat etwas Epochales werden", schreibt ein gewisser Ulrich Fuchs. "Etwas, das für die Art der wissenschaftlichen Textproduktion ähnlich wichtig wird wie der Buchdruck." Selbstbewusst sind sie, die Wikipedianer. Sie wollen die Welt aufgeklärter machen. Sie sind die Enkel Denis Diderots, des Enzyklopädisten aus dem 18. Jahrhundert. Die Wikipedia ist der gute Kern des Internet: ein demokratisch zusammengetragenes Wissensforum, ein Kompendium der Kulturen, frei von akademischen Graden und kommerziellen Interessen.
Diderots Wirken hat zum Ausbruch der Französischen Revolution beigetragen. Die Wikipedianer wollen auch eine Revolution, die digitale. Und die wird so definiert: "Im Idealfall führt sie zur Erhöhung der Bildung der Weltbevölkerung und daraus resultierend zu neuen revolutionären Erfindungen und schließlich zum Erreichen einer höheren Zivilisationsstufe". Na dann mal ran.
Die freie Enzyklopädie im Internet unter www.wikipedia.de
"Zieh los, korrigiere den Rechtschreibfehler, füge jenen Aspekt hinzu, präzisiere die Sprache. " Aufforderung auf der Wikipedia-Seite.
http://www.computerwoche.de/index.cfm?pageid=254&artid=58064 --snipp-- Wikipedia: Open-Source-Enzyklopädie mit 200.000 Einträgen 17.02.2004 um 17:34 Uhr
MÜNCHEN (COMPUTERWOCHE) - Die frei zugängliche Online-Enzyklopädie [[http:// www.wikipedia.org|Wikipedia]] ist seit Anfang 2003 auf das doppelte gewachsen und bietet nun in der englischsprachigen Ausgabe 200.000 Einträge. Weitere Artikel liegen in anderen Sprachen vor, darunter rund 51.000 Beiträge auf Deutsch.
Damit stellt das unter der [[http://www.gnu.org/copyleft/fdl.html%7CGNU Free Documentation License]] stehende Wikipedia andere Enzyklopädien wie [[http:// www.encyclopedia.com|Encyclopedia.com]] und kommerzielle Produkte wie Microsofts Encarta zumindest quantitativ in den Schatten. Encyclopedia.com verzeichnet 57.000 Einträge und in der Premium-Version von Encarta sind rund 60.000 Begriffe verzeichnet. Auch qualitativ gibt es an dem Open-Source-Lexikon nichts zu bemängeln, berichten Anwender. So erzeugt zum Beispiel der Suchbegriff "bird flu" (Vogelgrippe) bei [[http:// www.britannica.com|Britannica.com]] und Encyclopedia.com keine konkreten Treffer. Auch Encarta kennt die Krankheit nicht, wie Jeremy Wagstaff, Autor beim "[[http://www.wsj.com%7CWall Street Journal]]" feststellte.
Anders Wikipedia. Hier erfährt der Suchende, dass die Vogelgrippe durch den AI-Virus (Avian Influenza) ausgelöst wird. Weitere Kapitel klären über Ansteckungsgefahren, Verbreitungsgebiete und Vorsorgemaßnahmen auf. Die Informationen werden abgerundet mit einem Link auf ein [[http://www.who.int/ csr/don/2004_01_15/en/print.html|Fact Sheet]] der Weltgesundheitsorganisation WHO.
Fur die Beitragsfälle sorgt das Open-Source-Konzept, das es jedem ermöglicht, Beiträge für die Enzyklopädie zu verfassen, zu modifizieren und weiterzuverwenden. Eine feste Redaktion gibt es nicht, lediglich mehrere 1000 Autoren, so genannte "Wikipedians" haben sich fest registriert. Sie sorgen auch für die Qualitätssicherung. Denn natürlich kann niemand garantieren, dass jeder Eintrag fehlerfrei ist. Auch Fälle, in denen davon ausgegangen werden musste, dass böswillig falsche Informationen eingetragen wurden, haben die Wikipedians bereits verzeichnet.
Eine hohe Qualität bescheinigen auch IBM-Forscher. Sie haben Wikipedia unter die Lupe genommen und festgestellt, dass der überwiegende Teil von Falscheinträgen bereits nach fünf Minuten korrigiert war. "Wir waren überrascht, wie schnell die Fehler bereinigt wurden", sagte Martin Wattenberg vom [[http://www.watson.ibm.com/%7CIBM TJ Watson Research Centre]] in Cambridge (US-Bundesstaat Massachusetts).
Die Enzyklopädie wurde im Januar 2001 von Jimmy Wales und Larry Sanger gegründet. Wales ist Chef des Internet-Portals [[http://www.bomis.com%7C Bomis]], Sanger war ebenfalls bei Bomis beschäftigt, bevor er Wikipedia und das ebenfalls frei zugängliche Web-Lexikon Nupedia gründete. Technische Basis ist die Collaboration-Software "Wiki Wiki Web", die das kleine Entwicklungsbüro [[http://c2.com/%7CCunningham & Cunningham]] aus Portland entwickelt hat. Die notwendigen Web-Server finanziert Wales über Spenden, außerdem denkt der Wikipedia-Gründer über ein Lizenzgeschäft mit speziellen Versionen des Nachschlagewerks und den Verkauf einer gedruckten Ausgabe nach.
Neben Wikipedia finden sich weitere frei zugängliche Online-Enzyklopädien wie die oben erwähnten Encyclopedia.com und das Schwesterprojekt [[http:// www.nupedia.org/|Nupedia]], das allerdings in den Kinderschuhen stecken blieb. Das Konzept, das Online-Lexikon durch eine Redaktion zu betreuen, erwies sich als zu teuer. Auf der Website der BBC findet sich das von Kult-Autor Douglas Adams (The Hitchhiker´s Guide to the Galaxy) initiierte Lexikon "[[http://www.bbc.co.uk/dna/h2g2/%7Ch2g2]]", für das man sich kostenlos registrieren kann. Auch [[http://www.everything2.com%7CEverything2.com]] weiß die Antwort auf manche Frage. (lex) --snap-- Es gibt dort bei der Computerwoche auch eine Bewertungssystem für den Artikel und ein Diskussionsforum in dem z.Z noch kein Betrag steht.