Henriette Fiebig schrieb am 18. Jan. um 7:18:
... und wir überlassen die WP den Dampfplauderern, den Demokratie- und zerschlagt die Stasi-Admin-Clique-Schreihälsen, unbekannte-Computerspiele-Artikel-Fans, den Freunden der Pornosternchen aus Japan, den Orts-"Stub"-Fabrikanten, den Navi-Leisten-Gurus, den ich-kopiere-das-mal-von-einer-Website, wieso-selber-schreiben-Experten und ähnlichen Leuten?
Ja, wenn man das Feld ganz den Schreihälsen, Dampfplauderern, Kopier-Experten etc. überlässt. Aber nur dann.
Katharina Bleuer schrieb am 18. Jan. um 10:48:
Du meinst also, Informationen wie die, dass Einstein ein Physiker war und die Relativitätstheorie erfand wofür er den Nobelpreis bekam, gehört in eine Enzyklopädie der neuen Art, wie sie Wikipedia darstellt, nicht rein, weil so was altmodisch ist?
na wenn das so ist...
Gruss, Kat
Nein, das meine ich natürlich *nicht*! Du hast es gesagt: das Revelante gehört oben hin, die faits divers unten. Nicht umgekehrt. Und auch nicht die faits divers anstelle des Wichtigen.
Ulrich Fuchs schrieb am 18. Jan. um 10:48:
Zweitens musst Du, wenn Du Texte schreibst, einen imaginären Leser vor Augen haben, der bestimmte Anforderungen an den Text hat. Du kannst für promovierte Fachleute schreiben oder für einen Grundschüler, aber wenn Du versuchst, es für beide zu tun, bekommst Du Probleme.
Ich arbeite in einem Museum. Es gehört zu meinem täglichen Brot, Texte zu verfassen, die sich an die Fachperson *und* den interessierten Laien richten und von beiden gelesen werden. Es geht.
Der Grundschüler ist im übrigen der falsche Adressat. Und: Es ist schon Herausforderung genug, so zu schreiben, dass die Fachperson aus einem anderen Spezialgebiet das eigene Spezialthema versteht. Was schliesslich die immer wieder - unsinnigerweise - zitierte Pisa-Oma betrifft: Die Oma konnte noch Gedichte auswendig und hatte eine Ahnung von formalen Aspekten Sprache, weil sie es hart gelernt hat. Die Pisa-Generation ist unter 35...
Und das Ziel war definiert als Enzyklopädie, bei dem jeder Artikel in einer Form steht, wie er als "großer" (ausführlicher) Artikel in einer klassischen Enzyklopädie stehen würde. Damit wäre die Wikipedia weitaus ausführlicher gewesen (auch wenn sie exakt die selben Stichwörter abbilden würde), und diese hochkarätigen Texte wären *frei* gewesen. Heute siehts so aus, als produziere die WP zwar freie Texte, aber die Texte sind halt für ernstzunehmende Verwendung größtenteils unbrauchbar.
Die Diskussion kommt da, glaube ich, für einmal auf den Punkt. Ich kann lesen, was mir zur Verfügung steht zur Geschichte der WP. Was mir dabei auffällt, dass es eben ein solches Ziel offensichtlich *nie* in klar umrissener Form gab. Die WP-Prinzipien von Jimbo Wales z.B. reden von formalen Aspekten, dem Weg, aber vom Ziel nur in sehr allgemeiner Art. *Was* diese neue Enzyklopädie inhaltlich sollte, darauf wurde vermutlich immer schon weniger verwendet als darauf, wie man dazu kommt und was ihre Eigenschaften sein sollten (freies Wissen, offenes Schreiben und Nutzen etc.). Die Ziele, die Du formulierst, sind, scheint mir, eigentlich *Deine* Ziele bzw. diejenigen einer Gruppe von Pionieren.
Mit diesem Ziel wäre ich ja, mit zwei Ergänzungen (s.u.) völlig einverstanden. Was ich nicht verstehe, ist, was an der Idee interessant sein soll, einfach eine *ausführlichere* klassische Enzykolpädie mit *demselben* Inhalt zu machen. Das können andere besser als die WP community, vorausgesetzt, jemand finanziert das.
Was ich schon mehrfach unterstrichen habe, ist dies:
Die Zielvorstellung der WP (die ursprüngliche ebenso wie die heutige) ist, nach dem zu schliessen, was dazu formuliert wird, eine Enzyklopädie des menschlichen Wissens. Zunächst des relevanten Wissens. Was sich daraus laufend entwickelt ist einerseits eine gigantische Informationssammlung "wichtigen" und "weniger wichtigen" Wissens, "angereichert" durch Unausgegorenes und Unsinn.
Was ist nun schlecht daran und was gut?
Schlecht ist ohne Zweifel der Mangel an Qualität und auch, innerhalb der Community, an Qualitätsbewusstsein. Negativ ist auch, dass für den Leser längst nicht immer klar wird, was einen Prozess der Revision, Verbesserung etc. durchlaufen hat und was nicht; das hat Auswirkungen darauf, wie durch ein breites Publikum die Verlässlichkeit eingeschätzt wird.
Ist es aber auch schlecht, dass die WP voller nicht-kanonisiertem (besser: noch-nicht-kanonisiertem) Wissen ist (damit meine ich die guten, aber oft als nicht sehr "relevant" empfundenen Artikel)? Schau man da genauer hin, so zeigt sich, dass hier zwei spannende Dinge aufscheinen:
a) in der WP haben Themen und Stichworte und Personen der Alltags- und Massenkultur Platz, die in jeder klassischen Enzyklopädie aus Relevanzgründen entfallen (das Intchu-Tchuna-Prinzip). Es aber eine Banalität, dass das Interesse an solchen Themen - oft zeitverschoben - eher grösser als kleiner wird. Beispiele gefällig? Asterix hätte in den 1960er und 1970er Jahren niemals Eingang in gediegene Lexika gefunden; heute geben sich gestandene Wissenschaftler (Archäologen zumal) als ältliche Dummbeutel zu erkennen, wenn sie *kein* geflügeltes Asterix-Wort zur Hand haben. Darf ich auch daran erinnern, dass die Donaldisten-Bewegung besonders prominent in den luftigen Höhen des deutschen Edel-Feuilletons vertreten ist? Bis die klassische Enzyklopädie solche Phänomene abbildet, braucht sie Jahrzehnte. WP ist sofort da.
b) in den klassischen Enzyklopädien fallen zahlreiche Spezialgebiete den rigorosen Platzbeschränkungen zum Opfer, denen Druckwerke immer unterliegen. Dass viele solche "Nischen", die durchaus relevant sein können, dort nur in Stummelform berücksichtigt sind, weil sie aus rein formalen Kriterien entfallen, ist eine der grössten Schwächen des Enzyklopädie-Modells in Druckform. Und es ist interessant, dass es dem klassischen Modell nicht gelingt, mit den Online-Versionen, die ins Netz gekippt werden, diesen Mangel zu beseitigen. WP hat genug Raum, solche Nischen zuzulassen und hat zudem eine Organisationsform, die es bestens erlaubt, solche speziellen Themen effizient zu pflegen. Ein Beispiel aus meinem Umfeld: die Diplomatik (Urkundenlehre) wird "traditionell" mit einem oder wenigen Lemmata abgespeist: Diplomatik, Urkunde, Siegel (oder so). In der WP gibt es kein Problem, daneben z.B. wichtige Urkundenformen, Text-Elemente einer Urkunde oder ähnliches zu behandeln. Ein Benutzer, der z.B. wissen möchte, was eine "Arenga" ist, ist nicht auf das ein Handwörterbuch der Hilfswissenschaften verwiesen, das er, wenn er nicht Fachmann ist, weder kennt noch findet. Im besten Fall (jaja, ich weiss, dass das nicht garantiert ist) findet er in der WP dasselbe.
In diesen beiden Punkten, die beide nicht ganz unwichtig sind, liegt das *Andere* der WP. Und darin hat sie einen Vorsprung gegenüber den klassischen Modell.
Im übrigen, auch das wiederhole ich: Die Enzyklopädie hat seit dem 16. Jh. dreihundert Jahre gebraucht bis zur Encyclopédie, und nochmals hundert Jahre bis zum Bildungskanon von Meyer und Brockhaus und BE. Vor diesem Hintergrund nach einer Laufzeit von gerade mal vier Jahren zu glauben, ein Modell von ähnlichen Dimensionen sei bereits definitiv gescheitert, hat für mich als Historiker etwas Absurdes, aber sehr Zeitgemässes.
Mit bestem Gruss
Lullus