Skriptor skriptor@jhenning.de schrieb:
Primär befasst er sich mit der sozialen Organisation von Open-Source-Projekten. Um es mal verkürzt zu sagen: Clan- bzw. Stammesstruktur anstelle von Basisdemokratie.
Ist es nicht wahrscheinlich, daß Basisdemokratie (im Sinne von "jeder darf zu jeder Entscheidung mitbestimmen") ab einer gewissen Größenordnung nicht mehr funktionieren kann? (Ob sie darunter funktioniert, können wir hier dahingestellt sein lassen.)
Mit der Zahl an einer Organisation beteiligter Menschen steigt sowohl die Anzahl der zu entscheidenden Fragen als auch die durchschnittliche Anzahl der Menschen, die sich zu jeder Entscheidung äußern möchten bzw. müssen.
Damit steigt sowohl die Anzahl als auch die durchschnittliche Länge von Diskussionen. Irgendwann wird für jeden Beteiligten eine individuell unterschiedliche Grenze erreicht, über die hinaus er nicht mehr Zeit in Diskussionen und Entscheidungsfindung investieren will. (Denn dies ist ja nur der administrative Überbau, nicht der eigentliche Zweck.) Folge: Man nimmt an der Entscheidungsfindung gar nicht mehr teil oder trifft halb- oder uninformierte Entscheidungen, weil man zwar noch seine Stimme abgibt, aber die Diskussion nicht mehr verfolgt.
(Eine weitere Folge. Diejenigen, die sich ganz auf den administrativen Überbau konzentrieren und sich nicht um den eigentlichen Zweck der Organisation kümmern, gewinnen überdurchschnittlichen Einfluß.)
Irgendwann erreicht eine wachsende Organisation also eine Größe, ab der Basisdemokratie im Sinne von Entscheidungen, die von allen Benutzern gemeinsam und auf der Basis individueller Informiertheit getroffen werden, nicht mehr funktioniert.
Es erscheint mir eine logische Entwicklung, daß sich dann
- formelle oder informelle - Gruppen bilden, die die
Aufgabe der Informierung und Entscheidungsfindung an als vertrauenswürdige angesehene Mitglieder delegieren. Beispiel: Ich kann mich entscheiden, in Fragen des Urheberrechts dem Benutzer X zu folgen, dessen Ansichten ich in der Vergangenheit als sinnvoll und gut begründet (sprich: mit meinen Vorstellungen übereinstimmend) kennengelernt habe. Wenn es dagegen um Layout geht, kann ich mich Benutzer Y anschließen. Etc.
Auf diese Art würden zunächst mal für jede Einzelfrage neue, voneinander unabhängige Gruppen entstehen. Es liegt aber in der Natur der Sache, daß Menschen mit häufig übereinstimmenden Ansichten oft in der gleichen Gruppe sind und sich mit der Zeit zu semipermanenten oder sogar formellen Gruppen für die meisten oder alle Sachfragen zusammenfinden, die man dann als Clan bezeichnen könnte.
Eine Clan-artige Organisation anarchistischer oder semianarchistischer Projekte wäre demnach bei Überschreiten einer gewissen Größenordnung ein autonomes Phänomen der Selbstorganisation, das relativ unabhängig von bewußten Entscheidungen der Beteiligten ist.
Die nächsten Fragen wären:
- Wo sind wir in dieser Entwicklung?
- Empfinden wir diese Organisationsform als negativ?
- Wenn ja, kann man eine bessere Organisationsform erreichen?
Z.B. durch Bewußtmachung solcher Probleme. Einige Probleme bekommt man in der deutschen WP nur durch Riskierung seiner Benutzerkennung ins Bewußtsein.
Eine Art mit dem neuen Problembewußtsein umzugehen ist, Regeln zu formulieren, mit solchen Problemen umzugehen. Das Spiel [[Nomic]] basiert auf dieser Idee. Viele - nicht nur gegenwärtige - Menschen erleben Regeln nur als Methode der Eineingung und Herrschaft. M.E. fehlt bei diesen das Bewußtsein, dass Regeln zuallererst jene beschränken, denen mehr Ressourcen zur Verfügung stehen als ihnen selbst. Ich schreibe mit Absicht nicht von Machtmitteln. Regeln schützen also i.d.R. Schwächere gegen Stärkere.
Nun fragt sich natürlich jeder, warum sollten Stärkere sich dann für Regeln einsetzen. Die Antwort findet man in dem grauen Kasten auf der Diskussionsseite des Benutzers Fantasy oben rechts. Dieser graue Kasten ist Ergebnis einiger schlechter Erfahrungen, beginnend (nicht erst) bei Eingeborenen aus den Wuppertal-Düsseldorfer (oder war es Essener?) Niederungen. Thomas7
Lesetipps zum Thema: [[Walter Janka]]: Schwierigkeiten mit der Wahrheit. Essay. Rowohlt Taschenbuch Verlag, Reinbek bei Hamburg, Oktober 1989, ISBN 3-499-12731-8 Gert Gruner/Manfred Wilke (Hrsg.): Sozialdemokraten im Kampf um die Freiheit Die Auseinandersetzungen zwischen SPD und KPD in Berlin 1945/46 R.Piper Verlag, München, 1981, ISBN 3-492-10226-2 Otfried Höffe: Lesebuch zur Ethik. Philosophische Texte von der Antike bis zur Gegenwart. becksche reihe, Verlag C.H.Beck, München, 1999 Von Babylon und Altagypten über Kant und Camus bis Luhmann und Habermas Hannah Arendt: Macht und Gewalt Piper Verlag München Zürich, Erstausgabe 1970, englischer Originaltitel: 'On Violence', ISBN 3-492-20001-X Hannah Arednt: Benjamin, Brecht. Zwei Essays Serie Piper, München, 1971, ISBN 3-492-00312-5
Tippfehler bitte mitteilen und nicht blind den Plugins vertrauen.
Darf man auch als Nicht-Kantianer mitdiskutieren. Mir fällt spontan als leicht polemisches Gegenstück [[John Deweys]] "Deutsche Philosophe und deutsche Politik" ein.
Die nächsten Fragen wären:
- Wo sind wir in dieser Entwicklung?
- Empfinden wir diese Organisationsform als negativ?
- Wenn ja, kann man eine bessere Organisationsform erreichen?
Gute Frage. Ich finde den FAS-Artikel ja auch deshalb reizvoll, weil er sich eben nicht direkt um Wikipedia-Organisation dreht. Spontan würde mir ja erscheinen, dass es einen Grund hat, dass sich die Struktur bei verschiedenen Projekten sehr ähnelt und dass das zumindest zu einer gewissen Vermutung führt, dass diese Struktur aus diversen Gründen dem Projektziel am ehesten angemessen ist.
Und die Frage: warum ist es ein Problem? Sollten wir vielleicht einigermaßen konsensuell klären, bevor
Eine Art mit dem neuen Problembewußtsein umzugehen ist, Regeln zu formulieren, mit solchen Problemen umzugehen. Das Spiel [[Nomic]] basiert auf dieser Idee. Viele - nicht nur gegenwärtige - Menschen erleben Regeln nur als Methode der Eineingung und Herrschaft. M.E. fehlt bei diesen das Bewußtsein, dass Regeln zuallererst jene beschränken, denen mehr Ressourcen zur Verfügung stehen als ihnen selbst. Ich schreibe mit Absicht nicht von Machtmitteln. Regeln schützen also i.d.R. Schwächere gegen Stärkere.
Mmmh. Zwei Fragen: erstens wollen wir radikalen Egalitarismus im Sinne der Wikipedia oder nicht eher, dass gute Autorenvor schlechten geschützt werden? Leute, die "das Projekt" voranbringen wollen, vor denen die Wikipedia als Plattform für eine andere Agenda sehen?
Und anderes: ich habe zweifel ob man es so sagen kann, es gibt genug Regeln, die Stärkere schützen, weil sie eben die "soziale Ordnung" in ihrem status quo aufrecht erhalten. Gerade der Honeckerisierte Staat konnte sich über Mangel an Regeln für alle möglichen und unmöglichen Situationen ja nicht wirklich beklagen - übrigens auch unter dem Anspruch die Schwächeren zu schützen. Allgemein führen Regeln eine weitere Machtressource ein: nämlich Regelkenntnis. Bei drei wirklich verbindlichen Regeln kann man die jedem zumuten, bei viel mehr dann wohl nicht mehr.
Lesetipps zum Thema:
Ich ahnte es. Viel normaltive Ethik, wenig empirische Sozialwissenschaft ;-) Um mir Arbeit zu ersparen: http://vs.fernuni-hagen.de/Psychologie/SOZPSYCH/GD/Artikel/Virtuell/Schmidtm... hat am Ende einen recht brauchbaren Literaturteil.
south
"Ich mach dich Krankenhaus. Dann siehst du Scheiße aus." (Jazzkantine)