Hallo,
am Mon, 20 Jun 2005 13:47:24 +0200 schrieb Agon S. Buchholz:
[in Antwort auf Thomas Hochstein]
mittlerweile einfach zu vielfältig sind. Daher meine ich, dass nicht jeder, der online publiziert, automatisch zum Herausgeber wird, aber ebenso zum Verleger oder Herausgeber werden *kann*.
Damit hast Du sicher recht. Insofern ist die Impressumspflicht in Deutschland zu restriktiv. Andererseits sollten staatliche Regeln auch möglichst einfach sein, ein guter Ausnahmenkatalog wäre sehr schwer zu erstellen.
In einem Wiki mit tausenden von Mitarbeitern macht es aber keinen Sinn mehr, bestimmten oder gar allen Personen dieselben Prüfpflichten aufzuerlegen wie einem hauptberuflichen Lektor. Auch und gerade die Verantwortung des Autoren für den eigenen Text ist schwer zu bestimmten, wenn Texte kollektiv verfasst werden;
Sehr gut zusammengefasst. Damit ist aber auch klar, dass es etwas völlig verschiedenes ist, in einem Wiki anonyme Edits zuzulassen oder in einem Impressum einer Website dort vorgeschriebene Angaben zu unterlassen.
Also forderst Du, "Vorschriften" aus Prinzip einzuhalten und nicht zu hinterfragen, oder wenn man sie doch hinterfragt, sich dennoch an sie zu halten
So ist es. Ein solches Verhalten ist elementar für einen Rechtsstaat.
Elementar für einen Rechtsstaat sind mündige Bürger, die Sinn und Unsinn normierter Regelungen vernünftig beurteilen können;
Völlig richtig. Das heißt aber nicht, dass diese das Recht haben, jede subjektiv als unsinnig gesehen Regel zu ignorieren. Sie haben das Recht (vielleicht sogar die moralische Pflicht), die Änderung dieser Regel bzw. ihre Abschaffung zu betreiben. Idealerweise sollte es ihnen gelingen, wenn hinreichend viele andere die Sinnhaftigkeit der Regel ebenfalls bezweifeln.
kein Land dieser Erde hat vollständige Regelungen für alle Bereiche des Lebens, der Bürger muss also in der Lage sein, auf der Basis eines grundlegenden Rechts- und Unrechtsverständnisses die für ihn gültigen und annehmbaren Regelungen anzuerkennen.
Nein, das ist so nicht richtig. Der Bürger sollte sich dort, wo es keine staatlichen Regeln gibt, trotzdem moralisch verhalten. Dort wo es Regeln gibt, sind sie nicht der Willkür des Einzelnen anheimgestellt, sondern sollten zumindest grundsätzlich anerkannt werden.
Bürgerlicher Ungehorsam ist in manchen Fällen notwendig, wenn keine andere Abhilfe möglich ist. Das sollte aber immer die Ausnahme sein. Du machst es zur Regel, das führt letztlich zur Beliebigkeit von Vorschriften und damit zur Herrschaft der Stärkeren.
Erstens ist es für einen Staatsbürger bereits im bundesdeutschen Rechtsraum bereits praktisch unmöglich, sich absolut rechtskonform zu verhalten (es gibt zu viele Gesetze und Regelungen, die man einfach nicht kennt), zweitens sind einfach nicht alle gesetzlichen Regelungen sinnvoll und erst recht nicht eindeutig.
Meine Forderung, sich an Vorschriften zu halten, heißt ja nicht, dass man zum Hellseher werden soll. Man sollte Vorschriften, die man kennt, aber nicht wissentlich falsch auslegen oder ignorieren.
Das gilt zum Beispiel auch für Anwälte, die das Instrument der Abmahnung zur Bereicherung missbrauchen. Nach Deiner Argumentation ist ihre Handlung legitim. Meiner Meinung nach widerspricht dieses Vorgehen dem Geist des Gesetzes und ist damit nicht in Ordnung.
Ad 1: Ich kenne niemanden, der sich in dem von Dir geäußerten Verständnis gesetzestreu verhalten würde;
Wirklich nicht? Ich kenne zwar nicht viele Leute, die das tun, aber doch mehrere. Und einige, die dieses Verhalten zumindest für richtig hielten, und sich hinterher meistens schämen, wenn sie sich anders verhalten. Zu letzteren zähle ich mich (meist) selbst.
bekanntlich nicht vor Strafe, aber selbst wer zu unbedingter Gesetzestreue bereit ist, begeht ständig unwissentlich Gesetzesverstöße, ohne etwas dagegen tun zu können.
Das war nicht der Punkt. Du verteidigst nicht die unwissentliche Übertretung von Rechtsnormen, Du rufst zum Ignorieren unliebiger Normen auf. Das hat eine ganz andere Qualität. Anarchie ist als Konzept sehr schön, führt aber mit den Menschen, wie sie sind, eher zur Diktatur als zu größerer Freiheit.
Ad 2: Nicht jeder Bereich des Lebens ist gesetzlich geregelt, daher werden Gesetze interpretiert und an veränderte Verhältnisse adaptiert. Ein Beispiel hierfür ist die Abmahnpraxis gegen private Websitebetreiber:
Ganz und gar nicht. Das ist eher ein Beispiel dafür, wie sinnvolle Vorschriften durch unsinnige Auslegung pervertiert werden können, wenn sie gerade nicht adaptiert werden. Dass gerade Du die Abmahnpraxis verteidigst, verstehe ich allerdings gar nicht.
einen ganz erheblichen Interpretationsspielraum für Gesetze gibt, schon allein aufgrund dieser Uneindeutigkeit ist eine unbedingte vorauseilende Gesetzestreue weder möglich noch sinnvoll.
Die verlangt ja auch niemand. Aber wenn in einer Vorschrift steht, dass ein Impressum eine Anschrift enthalten muss, dass ist das doch hinreichend eindeutig, dass man sich daran halten kann.
In einem Rechtsstaat ist es dennoch für sein Funktionieren für alle Bürger zwingend, von Ausnahmefällen abgesehen rechtliche Normen auch dann zu beachten, wenn man sie ablehnt. Wenn jeder nur die Gesetze befolgt, die er gerade - für sich - für sinnvoll hält, bräuchten wir keine.
Wie gesagt, ich halte die "Ausnahmefälle" eher für den Normalzustand, und ich sehe einen enormen Unterschied zwischen dem Versuch des mündigen Bürgers, Gesetze nach Richtigkeit und Gerechtigkeit zu beurteilen
Das eine hat mit dem anderen aber nur am Rande zu tun. Der Rechtsstaat beruht gerade darauf, dass man sich an Gesetze auch dann hält, wenn sie für einen selbst gerade ungünstig sind. Dass ein Bürger Gesetze auch beurteilen sollte, um sie nötigenfalls zu ändern, ist eine andere Sache.
Warum sollte man eigentlich eine Zeitung nicht anonym herausgeben können?
Wenn die entsprechenden Gesetze geändert würden, spräche nichts dagegen. Außer dass die Qualität darunter möglicherweise leiden könnte.
Es gibt eine unendliche Fülle aus der Geschichte der Flugblätter, Zeitungen, Zeitschriften und Bücher, die anonym veröffentlicht wurden.
In Diktaturen oft eine Notwendigkeit, obwohl es dort besonders schwierig ist. Im demokratischen Rechtsstaat sehe ich die Notwendigkeit nicht so, dies zu ermöglichen. Vor allem sehe ich nicht die Notwendigkeit, die bestehenden Gesetze zu übertreten, wenn es einem zu schwierig ist, sie zu ändern.
Entweder man akzeptiert die grundsätzliche Berechtigung und Notwendigkeit von Anonymität und damit auch die von Grenzüberschreitungen
Nein, das eine folgt nicht, wie Du behaupten möchtest, aus dem anderen.
Warum nicht?
Weil Anonymität auch zugelassen sein kann. Grenzüberschreitungen hingegen sind dies per definitionem nicht, und sie sind besonders wirksam, wenn sie nicht anonym geschehen.
Staatliche Normen und rechtliche Regelungen sind immer an einen Zeitkontext gebunden; die Möglichkeit des anonymen Publizierens dient nicht primär dem Kaschieren peinlichen Geschreibsels, sondern um etwas zu sagen, was man sonst nicht sagen könnte.
Im demokratischen Rechststaat gibt es wenig, was man nicht ohne staatliche Sanktion sagen könnte. Das meiste /davon/ *sollte* auch staatlich sanktioniert werden - meiner Meinung nach.
Freiheitliche Publizisten konnten -- in anderen Rechtsordnungen -- jahrhundertelang für das eingesperrt werden, was sie veröffentlichten; hätte es nicht die Bereitschaft zu Grenzüberschreitungen, also von Gesetzesbrüchen der damalig geltenden Rechtsordnung gegeben, wäre Amerika noch eine britische Kolonie und Frankreich hätte einen König.
Das ist erstens vermutlich falsch und sagt zweitens nichts darüber aus, warum es in unserer Rechtsordnung legitim sein sollte, sich über völlig anders entstandene Normen hinwegzusetzen.
Warum sollte es heute nicht dieselbe Notwendigkeit zu Veränderungen geben, etw weil wir in einer perfekten Gesellschaft leben?
Nein, perfekt ist unsere Gesellschaft nicht. Aber sie bietet innerhalb der Rechtsordnung Möglichkeiten, diese zu ändern, die Notwendigkeit, dies in Widerspruch zu ihr zu tun, stellt sich also nicht annähernd in dem Maß wie früher. Es gibt Grenzfälle, wo auch unsere Gesellschaft des gezielten Normbruchs bedarf, aber diese sind die Ausnahme und müssen es auch bleiben. Alles andere führt in die Diktatur.
Gruß, Gerhard aka Perrak