Hallo Gemeinde,
nachdem der Rechtsstreit des Vereins im "Tron"-Fall bisher wohl recht erfreulich verlaufen ist, möchte ich an dieser Stelle eine eigene aktuelle Erfahrung ergänzen; wer den Fall früher mal auf Wikipedia- Stammtischen oder bei ähnlichen Gelegenheiten verfolgt hat, kennt die Hintergründe; daher hier nur eine knappe Zusammenfassung und die richterlichen Feststellungen, die für Wikipedia relevant sein könnten; eine rechtliche Beurteilung spare ich mir lieber, dafür bin ich als Nichtjurist ohnehin nicht kompetent.
Teile aus der Entscheidungsbegründung des Gerichts könnten relevant sein für den Verein, meine eigenen Fehler und irrigen Annahmen sind dagegen eher als Warnung für Wikipedia-Autoren gemeint; aus meiner aktiven Admin-Zeit weiß ich nur zu genau, dass sehr, sehr viele Wikipedianer permanent ähnlich "fahrlässig" arbeiten, sei es aus Zeitmangel oder aus Zu-gering-Schätzung des gerade editierten Textes, weil man ja nur mal kurz eine "Kleinigkeit" ergänzen will (ein falsches Wort kostet mich jetzt über tausend Euro - "Kleinigkeiten" gibt es also nicht!). Konkret wird beispielsweise auch die Wertigkeit von rasch mit Google "geprüften" Fakten absolut überbewertet, und viel zu oft wird auf das Prinzip "jemand-anders-wird's-schon-ausbessern" vertraut. Ich bin noch immer von Grundprinzip der kollektiven Texterstellung überzeugt, habe mittlerweile massive Zweifel, wer das in der faktischen herrschenden Rechtsordnung verantworten (also seinen Kopf dafür hinhalten) soll...
Anlaß meines Rechtsstreits war die Aktualisierung in einem über mehrere Jahre gepflegten Erfahrungsbericht über einen Bremer Fotohändler auf meiner privaten Homepage, der eine Zeitlang auch Filialen in Berlin betrieben hatte. Die Berliner Filialen wurden vor einigen Jahren aus unbekanntem Anlaß aufgegeben und zumindest zeitweilig von einer anderen Fotohändlerkette übernommen. Um den Erfahrungsbericht zum Abschluß zu bringen, gab ich eine Aussage über den Grund der Filialschließung wieder, die mir im Nachfolgegeschäft mitgeteilt worden war; ich hatte die Aussage zuvor - wie ich irrtümlich annahm - mit Hilfe von Google verifiziert, jedoch natürlich keine seriöse Wirtschaftsrecherche betrieben; mir erschien es ausreichend, einen "Gewährsmann" zu haben und auch bei einer kurzen Web-Recherche auf keine anders lautende Information gestoßen zu sein. Gegenstand des Artikels war ja für mich ein langfristiger Erfahrungsbericht, der zu einem plausiblen Ende geführt werden sollte, keine Wirtschaftsberichterstattung oder wissenschaftliche Analyse über ein Unternehmen, mit dem ich voraussichtlich nie wieder zu tun haben würde.
Die Auskunft des Nachfolgeunternehmens erwies sich als falsch, die Kurzrecherche als unzureichend; das Bremer Unternehmen mahnte die streitgegenständliche Aussage im Februar 2005 mit einem Streitwert von einer Viertelmillion Euro <sic!> ab. Es schloß sich das mehr oder minder übliche Procedere an (modifizierte Unterlassungserklärung, Zahlungsaufforderung [mit plötzlich reduziertem Gegenstandswert von 50.000 Euro], Zurückweisen der Zahlungsaufforderung und schließlich Zahlungsklage vor dem AG Bremen). Obwohl meine Website ziemlich offensichtlich eine private Homepage und definitiv kein "Handelsblatt Online" ist, wählte das Bremer Unternehmen den Weg der Abmahnung ohne jegliche Vorwarnung oder Versuch der Kontaktaufnahme, zielte also von Anfang an auf die maximal mögliche Konfrontation ab.
Im Streitverfahren ging es um die Erstattungsfähigkeit von Anwaltskosten auf der Basis eines Gegenstandswertes von nunmehr 50.000 Euro; mit dem Gericht wurde ein recht umfangreicher Schriftwechsel geführt, auf dessen Basis das AG Bremen im September 2005 einen Vergleich vorschlug: Reduzierung des Streitwerts auf 3.000 Euro (statt 50.000 Euro), Gebühr 1,0 (statt 1,2), gegenseitige Aufhebung der Kosten des Rechtsstreits; das Bremer Unternehmen lehnte den Vergleich ab. Wir hatten zuvor anhand von Logfiles und Zugriffsstatistiken beispielsweise belegen können, dass die betreffende Aussage nur maximal drei Tage abrufbar gewesen war und dass es auf die betreffende Seite innerhalb dieses Zeitraums nur eine Handvoll Zugriffe gegeben hatte (genau genommen 2 am ersten Tag, 9 am zweiten und 35 Zugriffe am dritten Tag, an dem auch die Abmahnung verfasst wurde); für mich schien ziemlich klar, dass es sich um eine absolute Bagatelle handelte, die von der Gegenseite aus anderen Motiven aufgebauscht wurde.
Das Gericht setzte einen Verhandlungstermin an, der auf Betreiben der Gegenseite verschoben wurde, und aus uns unbekannten Gründen wechselte bei der Gelegenheit auch der Richter. In einer mündlichen Verhandlung im Januar 2006 stellte die Gegenseite einen eigenen Vergleichsvorschlag vor, der "hier und jetzt" geschlossen werden sollte, ohne einen schriftlichen Text vor Augen zu haben (Prinzip der Mündlichkeit!); die neue Richterin teilte die Auffassung ihres liberalen Vorgängers nicht und schloß sich für uns vollkommen überraschend der Auffassung des Bremer Unternehmers uneingeschränkt an.
Das Vergleichsangebot war aus verschiedenen Gründen unannehmbar und erschien - zumindest mir - offensichtlich absurd; u.a. sollte ich jegliche Nennungen des Bremer Unternehmens in einem bestimmten Kontext aus sämtlichen Suchmaschinen der Welt <sic!> entfernen und mich bei einer Vertragsstrafe von 10.000 Euro "unter Verzicht auf die Berufung auf den Fortsetzungszusammenhang" verpflichten, dass beispielsweise nie "Informationen/Daten" über das betreffende Unternehmen in die Wikipedia <sic!> gelangen würden; der Text des Vergleichsangebots enthält noch weitere ähnlich bizarre Verpflichtungen. Der Vergleichsvorschlag des Unternehmens hatte übrigens inhaltlich nichts mehr mit der streitgegenständlichen Aussage zu tun, sondern war als genereller "Maulkorb" für mich mit praktisch unbegrenzter zeitlicher und "räumlicher" Wirkung gedacht.
In der mündlichen Verhandlung, in der das überraschende Vergleichsangebot unterbreitet wurde, versucht ich dem Gericht zu erklären, dass es technisch nicht möglich sei, binnen zwei Wochen <sic!> gezielt Informationen aus sämtlichen (!) Suchmaschinen, Caches und Internet-Archiven der Welt entfernen lassen zu wollen und dass ich keine Haftung übernehmen könne für Inhalte, die Dritte in die Wikipedia einstellten. Das Gericht kommentierte dies nur mit: "Dann machen sie doch da nicht mit" und gab der Klage im Urteil vom 16.2.2006 vollumfänglich statt. In der besagten Verhandlung wurde ich auch darauf hingewiesen, dass es vollkommen belanglos sei, ob ich einen Beitrag selbst verfasst oder nur in einem Forum oder Wiki "zugelassen" hätte; auch hier wurde wohl wieder die unsägliche Argumentation der "Zueigenmachung durch Nichtverhindern" aufgegriffen.
Die Entscheidungsbegründung enthält einige - zumindest für mich - bemerkenswerte Aussagen; die ersten sind zwar unschön, aber nicht überraschend:
* [Vollmacht] Unerheblich ist, ob der Abmahnung einer Vollmacht beigefügt ist [hier existieren auch gegenläufige Einschätzungen anderer Gerichte, die eine Abmahnung bei fehlender Vollmacht für ungültig erklärt haben]. * [Sittenwidrigkeit] Die Abmahnung einer Privatperson [erkennbar aus Impressum der Website] mit einem Gegenstandswert von 500.000 Euro ist nicht sittenwidrig [kein Kommentar] * [Gerichtsstand] Der Gerichtsstand ist dort, wo das Internet abgerufen werden kann (nicht der Wohnsitz des Beklagten) [das ist ein bekanntes Problem des Internetrechts, das aber wohl den aktuellen Stand der Rechtsprechung widerspiegelt; ich verstehe das allerdings nicht; wenn ich auf Mallorca eine FAZ aus dem "Internationale-Press"-Kiosk kaufe, ist der Gerichtsstand ja auch nicht Mallorca, nur weil ich die Zeitung dort kaufen konnte].
Interessanter für die Wikipedia sind dann die weiteren Aussagen:
* [potentieller Schaden] Es ist ohne Belang ob ein Schaden entstanden ist; es reicht die Möglichkeit, dass ein Schaden hätte entstehen können <sic!>; daher ist auch unerheblich, ob die Aussage im Internet tatsächlich gelesen wurde; entscheidend ist vielmehr die Möglichkeit, dass sie hätte gelesen werden können <sic!> [kann ich nicht nachvollziehen; jeder PKW kann "potentiell Schaden" verursachen, trotzdem wird niemand angezeigt, nur weil er einen PKW fährt]. * [Kommerzielle/nichtkommerzielle Motivation] Unerheblich ist, ob eine Website "aus Liebhaberei" oder "aus wirtschaftlichen Interessen" betrieben wird [für mich ebenfalls nicht nachvollziehbar; demnach würde an ein gemeinnütziges Projekt von Freiwilligen dieselben Anforderungen in Bezug auf kostenintensive Recherchen gestellt werden, wie sie bei einem bezahlten Profi-Journalisten mit Reisebudget etc. üblich sind]. * [Kontext] Unerheblich ist auch der Kontext, in dem die Aussage veröffentlicht wird [für mich überhaupt nicht nachvollziehbar; wenn ich im Kochrezept einer Rezeptsammlung eine Zutat verwende, von der ein Allergiker Pickel oder schlimmeres bekommen kann, ist das doch etwas anderes, als wenn ich dasselbe Rezept auf einer Selbsthilfeseite für eben jene Allergiker anpreisen würde; demnach würde es auch keinen Unterschied geben, ob ein Artikel über Adolf H. in einer Enzyklopädie oder einer rechtsextremen Hetzseite veröffentlicht wird]. * [Sorgfaltspflichten] Auch "von einem hobbymäßigen Betreiber einer Internetseite" kann gefordert werden, eine Recherche nach journalistischem Anspruch zu betreiben; im konkreten Fall reichte die Auskunft eines Mitarbeiters aus einem Nachfolgeunternehmen beispielsweise nicht aus [gängige journalistische Mindestanforderung sind m.W. zwei unabhängige Quellen für problematische Tatsachenbehauptungen; da natürlich in dem Urteil nicht spezifiziert wird, welche Prüfungen für Website-Betreiber ausreichend wären, würe eine solche Rechtsauffassung das faktische K.O. für Blogs und Foren bedeuten, wo häufig über Gerüchte diskutiert wird; natürlich hat auch niemand von uns hat beispielsweise die Möglichkeit, zur Untermauerung der Faktenaussagen eines Artikels die Profirechercheure des Spiegel-Archivs anzusetzen, diese undifferenzierte Auffassung würde also auch ein gravierendes Problem für andere Formen des Bürgerjournalismus darstellen].
Ich habe als Nichtjurist keine ausreichend fundierte Vorstellung, ob solche Aussagen repräsentativ sind für deutsche Gerichte, oder ob ich einfach nur Pech mit der (zweiten) Richterin hatte; ich kann auch nicht beurteilen, ob der Betreiber einer Website tatsächlich - wie hier behauptet - uneingeschränkt haftbar ist für beliebige Inhalte, die über seine Website abrufbar sind; beispielsweise dachte ich bisher, dass der Betreiber für Inhalte von Foren erst nach Kenntnisnahme haftet, aber das mag nicht mehr Stand der Rechtsprechung sein. Angesichts der Urteilsbegründung habe ich aber mittlerweile massive Zweifel, ob man bei solchen Rahmenbedingungen noch eine umfangreiche und relativ offene Website betreiben kann, ohne sich existentiell zu gefährden.
In der Wikipedia war ich immer ein erklärter Gegner von Zugriffsbeschränkungen und Restriktionen; ich halte es noch immer prinzipiell für sinnvoll und wichtig, anonyme Edits zuzulassen, glaube aber nach diesem Urteil, dass man wohl von niemandem erwarten kann, den Preis für diese Freiheiten zu zahlen. Angesichts einer solchen "Rechtsprechung" kann ich absolut nachvollziehen, wenn sich niemand die anscheinend vollkommen unkalkulierbaren Risiken aus der Betreiberhaftung ans Bein binden will. Ich muß daher meine Position grundsätzlich revidieren und mich zumindest der Fraktion der Halbsperrungs-Befürworter anschließen.
Bemerkenswert für mich persönlich und auch vollkommen überraschend war, dass das Gericht meine "wirtschaftliche Situation" vollkommen ignoriert; der volle Betrag "nebst Zinsen i.H.v. 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 10.04.2005" ist sofort und vollständig zu bezahlen - oder wird per Zwangsvollstreckung (!) eingetrieben. Um welche Summe es effektiv geht, weiß ich bisher nicht - im Urteil finden sich keine Angaben in "Cash" - der Betrag liegt aber irgendwo im unteren vierstelligen Bereich; ich hatte die Verteidigung mit PkH führen müssen (was auch geprüft und genehmigt worden ist) und daher damit gerechnet, dass ich im schlimmsten Fall den Betrag in einigen Monatsraten aufbringen müßte. Was ein Rechtsstreit mit vergleichbarem Verlauf für Jimbo und die Foundation bedeuten könnte, möchte ich lieber nicht wissen. Wenn das "Recht" sein soll, müßte man möglicherweise bereits bei einer durchschnittlichen Schadensersatzklage damit rechnen, dass der Serverpark einfach weggepfändet wird - zumindest wenn es nicht schnell genug gelingt, genug Spenden aufzubringen ("Das Urteil ist gegen Sicherheitsleistung in Höhe von 110% des zu vollstreckenden Betrages vorläufig vollstreckbar" - das heißt der Kläger kann den vollen Betrag sofort, also auch dann, wenn das Urteil noch nicht (!) rechtskräftig ist, vollstrecken lassen, wenn er die Sicherheitsleistung bezahlt).
Wie dem auch sei, für mich ist diese Erfahrung jedenfalls mehr als ernüchternd, was deutsches Recht und deutsche Richter angeht. Ich möchte daher mal meine Hochachtung für Kurt, Arne und den Rest des Vorstandes von Wikimedia Deutschland aussprechen, die letztlich dann doch ihren Kopf für den Rest der Community in diesem Land hinhalten müssen!
MfG -asb