Am Dienstag, 18. Januar 2005 08:51 schrieb Benedikt Zäch:
Konzeptionell ist eine WP nicht anders denkbar. Aber was ich bei den Unkenrufen eigentlich nicht verstehe, ist, dass sie sich stets nur an das (Vor)Bild der Enzyklopädie des 18. und 19. Jh. klammern, also die WP "nur" als bessere Enzyklopädie traditonellen Zuschnitts sehen. Vermutlich ist sie aber mehr, nämlich etwas Neues - genauso, wie es die Encyclopédie ihrem Grundverständnis nach war.
Die WP *war* konzeptionell anders gedacht (nicht als oszillieren zwischen Datengrab und Wissensvermittlung, sondern nur als Wissensvermittlung), und sie *hat* anders funktioniert. Wir reden hier nicht von Theorie, sondern von Praxis. Zweitens musst Du, wenn Du Texte schreibst, einen imaginären Leser vor Augen haben, der bestimmte Anforderungen an den Text hat. Du kannst für promovierte Fachleute schreiben oder für einen Grundschüler, aber wenn Du versuchst, es für beide zu tun, bekommst Du Probleme. Dann kannst Du bestenfalls dem Grundschüler etwas vereinfacht erklären, was Fachleute schon wissen, aber den Fachleuten nichts neues mehr sagen. Also musste sich auch die WP entscheiden. Und das Ziel war definiert als Enzyklopädie, bei dem jeder Artikel in einer Form steht, wie er als "großer" (ausführlicher) Artikel in einer klassischen Enzyklopädie stehen würde. Damit wäre die Wikipedia weitaus ausführlicher gewesen (auch wenn sie exakt die selben Stichwörter abbilden würde), und diese hochkarätigen Texte wären *frei* gewesen. Heute siehts so aus, als produziere die WP zwar freie Texte, aber die Texte sind halt für ernstzunehmende Verwendung größtenteils unbrauchbar.
Es ist zwingend notwendig, eine Richtung zu definieren, in der sich ein Wiki bewegen soll, wenn es funktionieren soll. Die Probleme in der WP fingen genau zu dem Zeitpunkt an, als dieses ursprüngliche Ziel immer weiter aufgeweicht wurde. Es geht nicht darum, ob eine WP ein Wörterbuch, ein Lehrbuch, ein populärwissenschaftliches Lexikon, ein Fachlexikon oder eine Enzyklopädie sein soll und was besser ist, sondern dass sie nur eins davon sein *kann*, weil sich das ganze gegenseitig ausschließt. Und dass diese Entscheidung zu Beginn des Projektes getroffen wurde, und sich gefälligst die Leute verpissen sollen, die mit dieser Grundausrichtung nicht einverstanden sind. Das wurde nicht eingefordert, und heute will Wikipedia alles gleichzeitig sein und ist nichts. Es ist völligiger Marketing-Blafasel zu behaupten, Wikipedia sei etwas "neues", ohne das neue zu definieren, und vor allem, ohne zu sagen, wer mit diesem Neuen wie arbeiten soll und will. Das ist ne faule Ausrede für: "Wir erreichen unser ursprünglich gestecktes Ziel nicht".
Die ganze Argumentation, das ganze Herumgehacke auf den angeblich so altbackenen Papierenzyklopädien in letzter Zeit erinnert mich fatal an die Fabel vom Fuchs und den Trauben.
Uli