Ulrich Fuchs wrote:
Ich habe kein Problem damit, wenn Wikipedia bottom-up zum blanken Wiki und zum Hort der freien Meinungsäußerung wird, nur soll man sie dann halt nicht mehr Enzyklopädie nennen.
In dem Punkte sind wir uns ja fast einig; ich würde halt sagen, dass Wikipedia stärker betonen müßte, dass sie das *Ziel* verfolgt, eine Enzyklopädie für Endbenutzer zu erstellen, dass die aktuelle Online-Fassung jedoch nur eine öffentlich einseh- und bearbeitbare *Arbeitsversion* davon ist, die nur in Verbindung mit entsprechend kritischer Medienkompetenz *wie* eine Enzyklopädie genutzt werden sollte. Man müßte einfach deutlicher machen, dass diese Arbeitsversion das ist, was im klassischen Arbeitsprozess eben noch nicht öffentlich gemacht wird, was wir aber aus Gründen der Transparenz öffentlich machen wollen.
Beispiel: Zweige der GNU/Linux-Distribution Debian (ein "Abgucken" bei Debian habe ich in ähnlicher Form bereits vor Monaten vorgeschlagen).
Hier gibt es "Stable", das als Betriebssystem zur Verwendung von Endbenutzern gedacht ist. Ein entsprechender Wikipedia-Zweig existiert m.E. nicht und müßte abgespalten werden, beispielsweise als stable.de.wikipedia.org; das müßte ganz klein anfangen (ein paar Ideen zur praktischen Umsetzung dazu werden ja sporadisch alle paar Monate andiskutiert; vor langer Zeit habe ich ja auch mal vorgeschlagen, pragmatisch eine Entsprechung zu Debian-"Testing" abzuspalten, um mit der Entwicklung einer stabilen Wikipedia-Version überhaupt mal zu beginnen; auf jeden Fall müßte man irgendeinen Versionsstand abspalten, wie das Directmedia längst vorgemacht hat).
Dann gibt es bei Debian noch "Unstable", das nicht als Betriebssystem zur Verwendung von Endbenutzern gedacht ist, sondern sich an Entwickler richtet. Das ist m.E. das eigentliche Äquivalent, das in Form der Wikipedia derzeit online ist: Wikipedia-"Entwickler" sind die Wikipedianer, und an sie richtet sich m.E. primär der derzeitige Content. Außenstehende können das nutzen, müssen sich aber -- genau wie bei Debian-"Unstable" -- der Risiken bewusst sein. Die sind im Falle von Debian ein möglicherweise nicht lauffähiges oder instabiles Betriebssystem und im Falle der Wikipedia Fehler, Widersprüche und Ungereimtheiten.
Bottomline: Wikipedia sollte klarer unterscheiden zwischen Projektziel und aktuellem Status, und den aktuellen Status entsprechend kenntlich machen ("Benutzung auf eigene Gefahr").
Dass die das machen würden, und dass man aus genau dem Grund extrem vorsichtig sein sollte, *überhaupt* irgendwelche Produkte/Unternehmen außer den ganz großen aufzunehmen, predige ich schon seit siebzigeinundziebzig.
Aber auch das ist leider wieder keine Lösung, sondern ein Wegdefinieren des Problems. In einem Umfeld, in dem Wissen und Werte ziemlich unstrittig zunehmend kommodifiziert werden funktioniert das m.E. nicht; die Benutzer suchen ja anscheinend gerade nach unabhängigen bzw. neutralen Informationen über *ihre* Umwelt, und die ist nunmal faktisch massiv von Werbung, Waren und Produkten geprägt. Wenn man das definititorisch umschifft, adressiert man eine Elfenbein-Turm-Realität, nicht jedoch die der Benutzer.
Außerdem sind leider auch nicht alle der "ganz großen" nicht und über Kritik und versuchte Öffentlichkeits-Manipulationen erhaben. Mit einer solchen Selektion hält man sich auch wieder nur die kleinen Wadenbeißer vom Hals und schafft sich das alte Abgrenzungsproblem (ab wann ist ein Unternehmen/Produkt "ganz groß"?)
Nein, aber mit einer Atmosphäre, in der die entsprechenden Interessen von Teilnehmern auffallen, und in denen man diese Teilnehmer eben auch aussperren kann.
Aber dann kommen die doch ein paar {Minuten|Stunden|Tage} später unter einer neuen Deckadresse wieder; so lange Accounts und E-Mail-Adressen nicht an juristisch relevante Identitäten (PostIdent!) gekoppelt sind, bereitet die Sperrerei den Projekt-Admins mehr Mühe als den "Gegnern" beim Anlegen neuer (Instant-) Accounts. Prinzipiell reicht ja selbst ein PostIdent nicht aus, sondern man müßte sich in persönlichen Treffen der Identität und vor allem der Integrität (!) der Koautoren vergewissern...
Gegen kriminelle Energie kommt man natürlich nicht an, aber wenn man sagt, man nimmt eben bspw. nur die großen Konzerne auf und irgendwelche echten Meilenstein-Produkte (und nicht jedes Modell jedes Autoherstellers), dann ist man in einem Bereich, wo die Interssierten sich hüten werden, mit krimineller Energie vorzugehen, weil - würde es publik - das ganz massiv schadet.
Das abstrahierte Beispiel, das ich angeführt habe, belegt leider faktisch das Gegenteil; ein umsatzstarkes Unternehmen wird sich nur Sorgen machen um "schlechte Presse", wenn ein Minimum an Unternehmensethik vorhanden ist. Bei dem Beispiel, das ich im Auge habe, ist das aber definitiv nicht der Fall, gezielte (und leider auch erfolgreiche) Presse- und Meinungsmanipulation gehört da zum Grundrepertoire der Unternehmenskommunikation (wir können das konkrete Beispiel leider nicht auf einer öffentlichen Mailingliste diskutieren).
[ "100-Augen-Prinzip" ]
Ja - und das liegt eben m.E. daran, dass man die neuen nicht richtig "erzogen" (gecoacht, angeleitet, such dir was aus), sondern sie einfach *alles* machen ließ (bunte Navigationsleisten aufbauen, Ortsstubs einstellen u.s.w), weil man ja ein bottom-up-Wiki ist. So hat man sich Wikipedianer "herangezüchtet", die in erster Linie auf blanke Masse, auf Sammeltrieb und auf Klickibuntiweb eingestellt sind. Und nicht auf *Texte lesen, verstehen und schreiben*. Die Klickibuntiwikipedianer ziehen in großer Menge neue Klickibuntiwikipedianer heran. Die Textschreiber kommen nicht nach, im von den Klickibuntiwikipedianern produzierten Rauschen echte Verschlimmbesserungen auszufiltern und zu korrigieren, und lassen es irgendwann sein. Dass das für eine Enzyklopädie nicht gut sein kann, wollte ja keiner glauben, nu muss man es ausbaden.
M.E. liegst Du damit wieder neben dem Problem der Wikipedia; Navigationsleisten und Ortsstubs siehst *Du* als Problem, es ist aber keins der Wikipedia; die "Pannen" der letzten Wochen haben sich ja nicht in diesen Bereichen ereignet, sondern ganz woanders.
Ob man bunte Navigationsleisten und Stubs mag, steht doch auf einem ganz anderen Blatt; ziemlich sicher verschlechtern sie jedenfalls nicht die Qualität von Artikeln wie [[Bill Gates]] oder [[Jane Fonda]], die werden doch von den Aktivitäten deiner "Klickibuntiwikipedianer" gar nicht tangiert.
Es wäre doch eine Illusion anzunehmen, man könnte jemanden, der Spaß daran hat, bunte Navigationsleisten zu bauen, einfach so zum Redigieren vom komplizierten Texten "umdressieren"; das sind unterschiedliche Zielgruppen von Wikipedianern, und da Wikipedia ein Freiwilligen-Projekt ist, kann und will man doch wohl niemanden dazu zwingen, Aufgaben zu erledigen, auf bzw. für die der/die Begtreffende gar keine Lust (Zeit, Kompetenz...) hat.
Das Problem scheint doch eher zu sein, dass komplizierte und/oder lange Texte aus dem Ruder laufen und in dem Bereich nicht genügend kompetente Freiwillige (!) nachgewachsen sind, die Willens und in der Lage sind, sich tage- und wochenlang in Grabenkämpfe verwickeln zu lassen. Du würdest jetzt vermutlich argumentieren, das die "Klickibunti"-Fraktion diese andere Zielgruppe abgeschreckt hat, aber ich glaube, dass andere Mechanismen demotivierend sind (insbesondere die Löschantrags-Modalitäten, die m.E. das K.O.-Kriterium für jeden renommierten und institutionalisierten Akademiker bilden; nur extrem hartgesottene Profs und Wimis können es sich antun, eine Watchlist kontinuierlich darauf zu prüfen, ob irgendein Erstsemester ihren hochgeistigen Beitrag zerlegt hat).
Außerdem könnte man die These aufstellen, dass das Wiki-Prinzip möglicherweise Grenzen hat (vgl. meine K3-Kriterien, die vom Wiki-Prinzip zwangsläufig systematisch unterlaufen werden); vielleicht könnte man da einiges algorithmisch ausbügeln, aber m.W. macht sich derzeit niemand Gedanken darum. Eine pragmatische Lösung (ohne grundsätzliche Umbauten der Software) könnte dabei übrigens auch wieder die Abspaltung eines "Testing"-Zweiges sein, in die neue Artikel nur kontrolliert einfließen und in der sich Edits ausschließlich auf definierte Qualitätskriterien (K3, Korrektur/Verifizierung, von mir aus auch Elminieren von Stubs und Abspecken von Navigationsleisten etc.) beziehen, nicht jedoch auf das Neuanlegen von Content.
MfG -asb