Thomas Hochstein wrote:
[ Analogien zu Autor, Leserbriefschreiber, Herausgeber und Verleger im Web ]
Wer im Netz publiziert, ist nicht Leserbriefschreiber, sondern Herausgeber einer Zeitung o.ä. Druckwerks - nur online. Daher gelten dieselben Maßgaben.
Guter Einwand; ich habe damals in meiner Waldorf-Argumentation (da ging es um die Haftung für Hyperlinks in einem nicht moderierten Forum auf angeblich rechtswidrige Inhalte) auch sehr lange nach passenden Analogien zu solchen Akteursrollen wie "Forumsschreiber", "Forumsbetreiber", "Websitebetreiber", "Websiteautor", "Wikipedianer", "Blogger" usw. gesucht und keine passenden gefunden.
Fast alles, was man online machen kann, sind Hybridformen aus verschiedenen Rollen des klassischen und ausdiffernzierten Verlags- und Publikationswesens des 19./ 20. Jahrhunderts; bessere Analogien findet man m.E. im (noch weniger geregelten und ausdifferenzierten) emergierenden Verlagswesen des 16./ 17. Jahrhunderts; Analogien zu den modernen Rollen im Publikationswesen konnte ich immer nur für bestimmte *Funktionen* finden, weil die Publikationsformen im Internet mittlerweile einfach zu vielfältig sind. Daher meine ich, dass nicht jeder, der online publiziert, automatisch zum Herausgeber wird, aber ebenso zum Verleger oder Herausgeber werden *kann*.
M.E. spiegelt sich genau diese Feststellung einer Neuverteilung der Rollen wider in den Systematisierungsversuchen der Gesetzgebung für "neue Medien", beispielsweise in den Erscheinungsformen für Medien- und Teledienste im MDStV und TDG (§ 2 MDStV, §2 TDG), wo u.a. zwischen Abruf- und Verteildiensten, Individualkommunikation, Zugangsvermittlung usw. ausdifferenziert und eben nicht einfach das alte Verlagsrecht anwegandt wird. Dabei muss man natürlich berücksichtigen, dass diese Mediengesetzgebung gerade mal die Kommunikationsformen der 1980er und 90er Jahre erfasst (nämliche Angebote wie Teleshopping, Datendienste, Fernmsehtext, On-demand-Dienste usw.) und noch überhaupt nicht auf viel weiter deregulierten Kommunikationsverhältnisse ab den 1990er Jahren adaptiert wurde.
Beispiel: In einem Wiki, das anonyme Edits zulässt, kann jeder Mitarbeiter wohl unbestritten gleichzeitig Fuktionen von Autor, Lektor und Herausgeber wahrnehmen: Er kann eigene Texte veröffentlichen, fremde Texte bearbeiten und die Veröffentlichung fremder Texte dulden oder auch verhindern. Es gibt aber kein unmittelbares (und personalisierbares) Äquivalent zum Verleger, da niemand die Funktion eines Gatekeepers innehalt, folglich ist es auch so schwierig festzustellen, wer jetzt wofür haftbar gemacht werden kann.
In den politischen Prozessen gegen den Berliner Wagenbach-Verlag Mitte der 1970er Jahre wurde beispielsweise eine Verantwortung des Verlegers Klaus Wagenbach für die von ihm veröffentlichten Publikationen konstruiert (Formulierungen "Benno Ohnesorg ermordet" und "Georg von Rauch ermordet" im Roten Kalender 73; das hatten auch andere gesagt wie Fried oder Böll, die dafür nicht bestraft wurden; Wagenbach hatte es zwar nicht geschrieben, aber verlegt und wanderte dafür für einige Monate ins Gefängnis). Wie die damalige Anklageschrift das begründete, weiß ich nicht, heute würde man aber wohl von einer Zueigenmachung durch Nichtverhinderung sprechen.
In einem moderierten Forum könnte man also vielleicht eine Analogie bilden wie Forumsbetreiber-Verleger, Forumsmoderator-Herausgeber, Forumsschreiber-Autor, da der Herausgeber ebenso wie der Forumsmoderator die Möglichkeit hat, eine Veröffentlichung (einen Forumsbeitrag nicht freizuschalten); in einem offenen Wiki gibt es aber keine Äquivalente, weil der Wiki-Betreiber überhaupt nicht über die Veröffentlichung eines Beitrags entscheidet (also kein Verleger) und die Äquivalente zu Lektorat und Herausgeberschaft eben alle anderen Wiki-Mitarbeiter wären.
In einem Wiki mit tausenden von Mitarbeitern macht es aber keinen Sinn mehr, bestimmten oder gar allen Personen dieselben Prüfpflichten aufzuerlegen wie einem hauptberuflichen Lektor. Auch und gerade die Verantwortung des Autoren für den eigenen Text ist schwer zu bestimmten, wenn Texte kollektiv verfasst werden; bereits wenige eingefügte oder gelöschte Worte können die Aussage eines Wikipedia-Artikels können die Aussage vollkommen verändern, und man kann einem Autoren wohl auch kaum Prüfpflichten für veränderte Artikelfassungen auferlegen (so wie es die Staatsanwaltschaft erfolglos im Radikal-Prozess gegen Petra Pau versucht hatte). Umgekehrt dürfte es wohl auch nicht haltbar sein, jedem neuen Autoren Prüfpflichten und Zueigenmachung für den gesamten Artikelrest oder gar alle verlinkten Artikel oder externe Ressourcen aufzubürden, obwohl er durchaus in Funktion eines Lektor-Herausgebers auftritt.
Also forderst Du, "Vorschriften" aus Prinzip einzuhalten und nicht zu hinterfragen, oder wenn man sie doch hinterfragt, sich dennoch an sie zu halten
So ist es. Ein solches Verhalten ist elementar für einen Rechtsstaat.
Elementar für einen Rechtsstaat sind mündige Bürger, die Sinn und Unsinn normierter Regelungen vernünftig beurteilen können; kein Land dieser Erde hat vollständige Regelungen für alle Bereiche des Lebens, der Bürger muss also in der Lage sein, auf der Basis eines grundlegenden Rechts- und Unrechtsverständnisses die für ihn gültigen und annehmbaren Regelungen anzuerkennen. Erstens ist es für einen Staatsbürger bereits im bundesdeutschen Rechtsraum bereits praktisch unmöglich, sich absolut rechtskonform zu verhalten (es gibt zu viele Gesetze und Regelungen, die man einfach nicht kennt), zweitens sind einfach nicht alle gesetzlichen Regelungen sinnvoll und erst recht nicht eindeutig.
Ad 1: Ich kenne niemanden, der sich in dem von Dir geäußerten Verständnis gesetzestreu verhalten würde; jeder setzt sich im Straßenverkehr über gesetzliche Regelungen hinweg und überquert eine Straße bei Rot, überschreitet mit dem PKW ein Tempolimit, entsorgt Plastikmüll in der falschen Mülltonne, verstößt gegen die Hundehalterverordnung und läßt seinen Hund mal trotz Leinenzwang im Wald frei laufen oder verstößt wissentlich oder unwissentlich gegen irgendwelche Steuergesetze; natürlich verstößt auch jeder, der unter GNU/Linux eine CSS-geschützte DVD abspielt, gegen den Wortlaut des novellierten UrhG, nicht jedoch gegen des Geist des Urheberechts. In Berlin gibt es keinen generellen Leinenzwang, im angrenzenden Brandenburg schon; wer mal den Hund seines Nachbarn ausführt und dabei versehentlich die Landesgrenze überschreitet, begeht schon eine Ordnungswidrigkeit, wenn er den Hund nicht direkt an der (natürlich nicht ausgewiesenen) Bundeslandesgrenze anleint. Unwissenheit schützt bekanntlich nicht vor Strafe, aber selbst wer zu unbedingter Gesetzestreue bereit ist, begeht ständig unwissentlich Gesetzesverstöße, ohne etwas dagegen tun zu können.
Ad 2: Nicht jeder Bereich des Lebens ist gesetzlich geregelt, daher werden Gesetze interpretiert und an veränderte Verhältnisse adaptiert. Ein Beispiel hierfür ist die Abmahnpraxis gegen private Websitebetreiber: Das Instrument der Abmahnung war nie dafür gedacht, hunderttausende von Privatleuten mit Klagen über etiche tausend Euro zu überziehen; das BGB oder meinetwegen auch UWG wurde an einen neuen Sachverhalt adaptiert. Formaljuristisch mögen diese Abmahnungen rechtmäßig sein, im Geiste des Gesetzes sind sie es jedoch m.E. nicht; die Existenz des Richterrechts belegt doch wohl hinreichend, dass es einen ganz erheblichen Interpretationsspielraum für Gesetze gibt, schon allein aufgrund dieser Uneindeutigkeit ist eine unbedingte vorauseilende Gesetzestreue weder möglich noch sinnvoll.
In einem Rechtsstaat ist es dennoch für sein Funktionieren für alle Bürger zwingend, von Ausnahmefällen abgesehen rechtliche Normen auch dann zu beachten, wenn man sie ablehnt. Wenn jeder nur die Gesetze befolgt, die er gerade - für sich - für sinnvoll hält, bräuchten wir keine.
Wie gesagt, ich halte die "Ausnahmefälle" eher für den Normalzustand, und ich sehe einen enormen Unterschied zwischen dem Versuch des mündigen Bürgers, Gesetze nach Richtigkeit und Gerechtigkeit zu beurteilen und der Forderung, alle Gesetze abzuschaffen; ersteres halte ich für ein Desiderat, letzteres für eine Utopie.
Tatsache ist nun einmal, dass beispielsweise weder die französische noch die US-amerikanische Verfassung in ihren heutigen Formen existieren würden, wenn es nicht die Möglichkeit gegeben hätte, anonym zu publizieren.
Die gibt es doch. Siehe Wikipedia. Du brauchst nur jemanden, der Dir eine Plattform bereitstellt. Auch in einer Zeitung kannst Du anonym publizieren - Du kannst nur nicht eine solche anonym herausgeben. :)
Warum sollte man eigentlich eine Zeitung nicht anonym herausgeben können? Es gibt eine unendliche Fülle aus der Geschichte der Flugblätter, Zeitungen, Zeitschriften und Bücher, die anonym veröffentlicht wurden. Die Konvention, in Büchern überhaupt einen Verleger anzugeben, hat sich erst rund zwei Jahrhunderte entwickelt.
Entweder man akzeptiert die grundsätzliche Berechtigung und Notwendigkeit von Anonymität und damit auch die von Grenzüberschreitungen
Nein, das eine folgt nicht, wie Du behaupten möchtest, aus dem anderen.
Warum nicht? Staatliche Normen und rechtliche Regelungen sind immer an einen Zeitkontext gebunden; die Möglichkeit des anonymen Publizierens dient nicht primär dem Kaschieren peinlichen Geschreibsels, sondern um etwas zu sagen, was man sonst nicht sagen könnte. Freiheitliche Publizisten konnten -- in anderen Rechtsordnungen -- jahrhundertelang für das eingesperrt werden, was sie veröffentlichten; hätte es nicht die Bereitschaft zu Grenzüberschreitungen, also von Gesetzesbrüchen der damalig geltenden Rechtsordnung gegeben, wäre Amerika noch eine britische Kolonie und Frankreich hätte einen König. Vielleicht muß man es immer wieder sagen: Auch die "Encyclopédie" war eine durchweg illegale und konspirative Unternehmung, ein permanentes Unterlaufen und Unterschriten von damals geltendem Recht. Bis heute weiß man bei etlichen Artikeln nicht, wer sie eigentlich verfasst hat. Warum sollte es heute nicht dieselbe Notwendigkeit zu Veränderungen geben, etw weil wir in einer perfekten Gesellschaft leben?
MfG -asb