Anathema schrieb:
Ist es nicht gerade eine der Stärken der Wikipedia unprofessionell zu wirken und es auch zu sein und trotzdem, ja gerade deswegen, zu funktionieren?
Wenn Du mit "Wikipedia" den reinen Prozess der Enzyklopädieerstellung meinst, dann gebe ich Dir in gewissem Sinne Recht. Auch wenn das Fernziel eine professionelle Enzyklopädie ist darf auf dem Weg dahin "unprofessionell" agiert werden, weil wir niemandem irgendwelche Zusagen gemacht haben und es auch keinen Abgabetermin gibt. Irgendwann werden wir das Ziel schon erreichen.
Allerdings gibt es um diese reine Textarbeit herum noch die reale Welt, mit Geld, Gesetzen und allerlei Rollenvorgaben. Ich bin da kein Fan von, und wannimmer jemand eine Idee hat, wie wir um diese Dinge produktiv herumarbeiten können, werde ich sie nach Kräften unterstützen. Wenn aber bei mir das Telefon klingelt, und jemand mir lang und breit einen Konflikt mit einem anderen Nutzer schildert, ich ihn beruhige und danach im IRC frage, ob jemand sich darum kümmern kann, und dann nur Schweigen ernte, dann weiß ich, dass sich die Dinge in der Wikiwelt doch nicht alle von alleine regeln.
Oder wenn ich eine Rechnung wegen einer vermuteten Urheber- oder Markenrechtsverletzung bekomme (beides schon vorgekommen), dann kann Unprofessionalität mich persönlich in arge und das Projekt selbst zumindest in Schwierigkeiten bringen. Auch bei Journalisten gibt es nach über drei Jahren Bestehen des Projektes keinen Unprofessionalitäts-Sympathiebonus mehr. Wenn jemand auf kritische Nachfragen keine plausiblen Antworten liefern kann (z.Z. zu den "kritischen Stimmen im Heise-Forum", zu Urheberrechtsverletzungen, POV-Artikeln), dann fällt der Artikel auch danach aus. Noch mehr gilt das für Live-Interviews, da kann dann auch ein wohlwollender Redakteur nichts mehr rausreißen. Auch bei Banken und Finanzämtern kann man mit Unprofessionalität nicht punkten.
Ja, mit der Professionalisierung kommt die Institutionalisierung, und es entstehen neue Möglichkeiten der "Kontrolle", wie Du schreibst. Aus diesen prinzipiellen Befürchtungen die Schlussfolgerung zu ziehen "keine nicht-öffentlichen Mailinglisten, keine Pressesprecher, keinen Verein, keine Foundation" halte ich zwar für verlockend, auf lange Sicht aber nicht hilfreich.
Die Organisationsform Verein ist mir, und ich denke auch den meisten Mitgliedern und Vorständlern, suspekt. Ich sehe ihn als notwendiges Zugeständnis an die Realität, anders könnte ich nicht vor mir selbst rechtfertigen, ein "Vereinsvorsitzender" zu sein.
Kurt