Thomas R. Koll wrote:
Die Programmatik ist das Gerüst, an dem die Enzyklopädie errichtet wird, das sie und ihre Bestandteile zusammenhält und ihr einen Sinn gibt. Das Motiv für "Wissen für alle von allen" ist Sammeln um des Sammelns Willen, nicht für einen übergeodneten Zweck wie "Aufklärung".
Eher und der "Erhaltung des Wissen" willen.
Auch das wäre Ein "Retro-Kriterium" aus dem vorletzten Jahrhundert. Archive und Bibliotheken machen das besser, ausserdem fände ich den Anspruch, Wissen in einer homogenisierten Form erhalten zu wollen recht zweifelhaft. "Erhaltung des Wissens" könnte aber ein legitimes Ziel von Wikipedia-Schwesterprojekten wie Wikisource sein.
Wichtiger: Das gegenwärtige Problem besteht nicht darin, Wissen zu "erhalten", sondern aus der Flut auszuwählen (Stichwort [[Informationsexplosion]] bzw. Wissensexplosion); die Wissenserzeugung gipfelt momentan in einem Berg von ungeordnetem und nicht-gewichtetem Wissen, weil aus dem "globalen Datenspeicher" (in Form von Publikationen in jeglichern Form) nichts gelöscht wird. In eine Programmatik für die Wikipedia übersetzt würde das mit Ulis exklusionistischem Standpunkt zusammenfallen ("Wir wählen das Wissen aus, das sie wissen {müssen|können|dürfen}"). Zumindest wäre das ein Ansatz für eine Programmatik, die ist aber erstens nicht konsensfähig und zweitens etwas ganz anderes, als es die Wikipedia mit ihrer Artikelmengenhatz derzeit verfolgt.
Das kannst Du ebenso durchdeklinieren mit anderen Versprechungen wie beispielsweise * "Zugänglichmachung" ("Wir machen Wissen verfügbar für alle", hat die bereits festgestellte Diskrepanz mit "alle"; die Gruppe jener "alle", die ohnehin schon Zugang zu einer öffentlichen Bibliothek haben ist größer als die mit Internet-Zugang); * "Internationalisierung" ("Wir globalisieren Wissen", tatsächlich gibt es kein wirklich internaionales, mehrsprachiges Lexikon; da die verschiedenen Sprachverseionen der Wikipedia aber kaum synchronisiert sind, wäre das auch ein ungünstiges Kriterium), * "Deökonomisierung" ("Wir machen den Zugang zu Wissen erschwinglich", es macht aber auch wenig Sinn, sich zum Aldi des Wissensmarktes aufzuschwingen, zumal man eine gebrauchte Encarta vom Vorjahr für ein paar Euro bekommt) * "Demokratisierung" ("Wir demokratisieren Wissen", das trifft vielleicht am ehesten den Punkt, mit allen (unbeabsichtigten) Konsequenzen wie vox populi, vox bovi).
Faktisch wird die Wikipedia zusammengehalten durch zwei explizite und ein implizites Kriterium, das ist (1) der NPOV und (bereits massiv abgeschwächt) (2) das halbherzige Bekenntnis zu freiem Wissen im Sinne der GNU FDL (wobei das in Wikipedias Vorzeige-Teilprojekt, der englischen Wikipedia, dank "fair use" für Bilder effektiv bestenfalls für Texte gilt) sowie (3) das implizite Kriterium der Demokratisierung der Wissensproduktion und -nutzung.
ad 1: NPOV taugt als konstitutives Kriterium für eine Enzyklopädie nichts (jedes zeitgenössische Lexikon und jedes Wörterbuch wird versuchen, einen neutralen Standpunkt zu beanspruchen; die Enzyklopädie ist ja gerade durch eine Ideologie gekennzeichnet).
ad 2: Wäre die Wikipedia konsequent nach Stallmans "Free-as-in-freedom"-Kriterien konstruiert, wäre das die Ideologie; da Stallmans Ideen, insbesondere in Bezug auf den offensiven Umgang mit nicht-verfügbarem Bildmaterial ("hier kann kein Bild wiedergegeben werden weil Corbis auf den Bildrechten sitzt..."), abgelehnt wurden, taugt das halbherzige Bekenntnis zu "ein bisschen Freiheit, aber..." nichts. Mit einem solchen Kriterium bei der etablierten Handhabung hätten wir von Anfang an verloren.
ad 3: Es verbleibt das Kriterium der Demokratisierung. Konstruieren wir die Wikipedia also als mal als "Enzyklopädie, die den Prozess der Wissensschaffung, -aggregation, -selektion und -distribution demoktratisiert"; demokratisieren definieren wir mal als "Partizipation einer autopoietisch konstituierten Gruppe" (also Leute, die sich selbst zusammenfinden und bestimmten Krierien genügen) und als Gegenpol zur monopolisierten, autoritäten, industriellen (Wissens-) Produktion. Dann kommen wir in Teufels Küche mit einem antidemokratischen Stammhalter (Jimbo) und den fundamentalen Zweifeln an demokratischen Prozessen in der Wikipedia; die Wikipedia verfügt m.E. bestenfalls über Fragmente demokratischer Prozesse, dieses Kriterium ist also summa summarum ebenfalls vollkommen untauglich.
Last but not least könnte man noch "Anarchisierung von Wissen" anführen. Das möge mal jeder selbst in seinen programmatischen Konsequenzen für eine Enzyklopädie durchspielen. Ich würde das für das valideste Krierium halten, es stünde aber diametral einem exklusionistischen Standpunkt entgegen, wäre radikal inklusionistisch und -- vor allem -- ist derzeit nirgends kodifiziert und vermutlich auch alles andere als konsensfähig.
Mir kommt's so vor als streiten wir uns in dieser Diskussion um die Definition von Lexikon und Enzyklpädie, wie wäre es wenn wir uns stattdessen auf den Oberbegriff "Wissensquelle" einigen könnten?
Das sich die Wikipedia überall annonciert als Enzyklopädie würde das das Problem nicht lösen. Drei Möglichkeiten gibt es: (1) Definition von Enzyklopädie verändern und Differenzen zu Wörterbuch und Lexikon verschleifen; (2) Programmatik im Sinne einer klassischen Enzyklopädie entwickeln und kodifizieren; (3) Diskrepanzen ignorieren, weitermachen wie bisher und sich irgendwann ganz fürchterlich ungerecht behandelt fühlen, wenn irgendjemand man öffentlich feststellt, dass "Wikipedia" und "Enzyklopädie" nichts miteinander zu tun haben.
MfG -asb