Jakob Voss wrote:
Ich denke eher, dass "Geistiges Eigentum" nun mal einfach die üblichere Bezeichnung ist. Im Grunde ist mit "immateriellen Monopolrechten" genau das gleiche gemeint mit dem Unterschied, dass eine andere Wertung impliziert wird. Ich würde die Wissenschaftler nicht wegen ihrer Wortwahl vorverurteilen.
Genau diese Lesart sehe ich als das Problem; nur kurz dazu (das Thema ist hier doch etwas OT): Ein Elmar Wadle kann meinetwegen "Geistiges Eigentum" in seinen "Bausteinen zur Rechtsgeschichte" untersuchen und sich dort beispielsweise mit den Württembergischen Nachdruckprivilegien im 19. Jahrhundert beschäftigen; spätestens, nachdem man im Vorwort gelesen hat, dass die VG WORT die 400 Seiten des Bandes II finanziert hat, weiß man auch, aus welcher Richtung der Mann kommt.
Was aber heute unter angebliches "geistiges Eigentum" gefasst wird, hat aber nichts mehr mit Rechtsgeschichte zu tun, ist weder besonders geistig noch überhaupt Eigentum, nämlich beispielsweise Farben (Markenrecht), Gene von Saatgut oder Mäsusen (Patentrecht) oder die ganzen Obszönitäten des novellierten Urheberrechts, die nichts mehr mit persönlichen geistigen Schöpfungen zu tun haben. Der Kampfbegriff des "geistigen Eigentums" adelt und kumuliert Dinge unter einem ehrenwerten Etikett, die weder so etikettiert gehörten noch überhaupt zusammenpassen.
Siehe dazu mein Testballon [[Auf den Schultern von Giganten]] (übrigens ein eher unrühmliches Kapitel in der Historiografie der Wikiepdia).
Wieso? So schlecht finde ich den Artikel gar nicht (aber bisher auch nicht gerade gut).
Der Artikel referiert ein (m.E. sehr wichtiges) Gleichnis; das einschlägige (populär-) wissenschaftliche Buch dazu ist Mertons im Artikel von Anfang an referenzierter gleichnamiger Band ("OTSOG"). Ich habe den Artikel am 6. April 2004 angelegt, er ist danach von einem knappen Dutzend Leuten bearbeitet worden und mittlerweile über ein Jahr inhaltlich weitgehend unverändert geblieben. Mit allen eingestreuten Fehlern und Gerüchten.
Der Artikel war ein Testballon für das 100-Augen-Prinzip der Wikipedia (vermutlich schweben noch etliche weitere herum); der Artikel referiert nämlich weder Mertons Buch (und damit den längst überholten Forschungsstand von 1965) vollständig, noch ist er sachlich korrekt: Ich habe nämlich einfach Mertons "Fund" unterschlagen. Ich wollte beobachten, ob jemand den Sachverhalt kritisch prüft (was nicht der Fall war), eigene Quellenarbeit leistet (was ebenfalls nicht der Fall war) oder wenigstens den Artikel mit den angegebenen Literaturquellen abgleicht (auch das war nicht der Fall). Theoretisch hatte ich vor, den "Schleier" nach einigen Monaten zu lüften, den Artikel zu vervollständigen, den (m.E. sehr wichtigen) Artikel zu einem "exzellenten" auszubauen und die Ergebnisse des Versuchs in der "Wikipedistik" zu veröffentlichen; da kam dann aber die Waldorf-Abmahnung dazwischen, die meine Arbeit in der Wikipedia unterband, daher verbleib der Artikel viel länger als beabsichtigt in seinem desolaten Zustand und wurde fast schon zu einer "Langzeitstudie".
Der Trick in Mertons 240-seitigem Bändchen besteht ja darin, dass er -- durch nicht übermäßig tiefschürfende Quellenarbeit -- feststellt, dass wohl aus Nachlässigkeit und Bequemlichkeit über Jahrhunderte (!) eine falsche Quellenzuschreibung tradiert wurde, da anscheinend *niemand* aus der wissenschaftlichen Gemeinschaft sich die Mühe gemacht hatte, die Quellen zu prüfen und immer nur Nonsens-Verweise reproduziert wurden. Der Hinweis von Burton auf Didacus Stella "in Luc. 10, tom. ii" bezieht sich -- nach Merton -- eben nicht auf den heidnisch-römischen Dichter Lucan (verlinkt ist auch bei uns noch immer [[Marcus Annaeus Lucanus]]), sondern -- so zumindest Merton -- auf den heiligen Lukas. In Lucans "De Bello Civili" oder "Pharsalia" existiert das Gleichnis nicht, wie man selbst mit einer reinen Internet-Recherche feststellen kann (der Volltext existiert online).
Einige Benutzer haben bei uns schließlich den bereits von Merton ausfindig gemachten "tatsächlichen" Urheber (Bernhard von Chartres) halbherzig ergänzt, den Lucan-Fehler aber weiter beibehalten. Auch die ganze ideengeschichteliche Ableitung von Merton wurde nie ergänzt, geschweige denn problematisiert (wohlgemerkt, Mertons Buch erschien 1965). Ohne jegliche Quellenangabe ergänzte dann jemand im April 2005 (also nach rund einem Jahr!), dass der Ursprung des Gleichnisses "mutmaßlich der antike Mythos von [[Kedalion]] [sei], der auf den Schultern des blinden Riesen [[Orion (Mythologie)]] saß und ihn führte"; eine Quellenanagbe dazu wäre notwendig, weil zum einen Merton diese Quelle vor Bernhard nicht erwähnt und zum anderen, weil alle möglichen antiken Autoren über die Orionsage geschrieben haben, man also selbst mit allgemeinen altphilologischen Vorkenntnissen nicht klar zuordnen kann, wer wann was geschrieben haben soll.
Richtig interessant wird es dann, wenn man konsequent über Mertons 1960er-Jahre-Erkennisse hinausgeht und auch nur den "kleinen Pauli" zu Rate zieht; dort findet man dann nämlich tatsächlich Quellennachweise, nach denen Kedalion, der Lehrer oder Gehilfe des Hephaistos den geblendeten Riesen Orion "auf dessen Schultern sitzend, gen Sonnenaufgang führt", wo dieser von Helios sein Augenlicht zurück erhält (kryptische Quellenangabe: "Hes. frg. 182 Rz. Eratosth. katast. 32 Apollod. 1,26"). Im "Pauly" findet sich dann noch der verwirrende Hinweis, diese Szene sei "vereinzelt in der Kunst dargestellt" ("Lukian. de domo 28. Titel eines sophokl. Satyrspiels"; ob dieser "Lukian" mit dem heiligen Lukas identisch ist, darf bezweifelt werden; der "Pauly" bietet uns gleich zwei "Lukianos" an, einen Sophisten und einen Märtyrer; Handlexika helfen hier aber sicherlich nicht mehr weiter).
Exemplarisch zeigt der Wikipedia-Artikel [[Auf den Schultern von Giganten]] also, dass nach über einem Jahr (a) das 100-Augen-Prinzip (zumindest in diesem Einzelfall) nicht funktioniert, (b) Quellen ebenso wenig geprüft werden wie in all den anderen Abschreiber- Nachschlagewerken, die lediglich auf sich selbst referenzieren, nicht jedoch auf die tatsächlichen Quellen, (c) Literaturangaben nicht auf korrekte Paraphrasierung geprüft werden und der Artikelstand dadurch auf einen Forschungsstand weit vor 1965 zurückfällt, obwohl Mertons Buch sogar in deutscher Übersetzung vorliegt und als preiswertes Taschenbuch lieferbar ist (man muss also weder fremdsprachige Texte lesen, noch sich in die Bibliothek bemühen) sowie (d) selbst eine kritische Quellensichtung wirklich gut verfügbarer ergänzender Materialien wie dem "kleinen Pauly" ausbleibt (Fehlende Einarbeitung der antiken Quellen), und (e) wissenschaftliche Forschungsliteratur überhaupt nicht eingearbeitet wird. Abgesehen davon wurden natürlich auch die verschiedenen Interpretationen und Implikationen des Gleichnisses nicht eingearbeitet
Dieses Herumgeschlampe mit Quellenangaben und erfundenen oder falschen Zuschreibungen ist halt an einem Artikel wie [[Auf den Schultern von Giganten]] besonders prekär, da sich der ganze Artikel ja eben um die Bedeutung der Vorleistungen anderer dreht. Die Fehler im Artikel wären auch weniger prekär, wenn sie nicht 1965 bereits von Robert K. Merton ausführlichst erörtert worden wären (von Newton über Burton bis zu Lukan kommt man nämlich auch mit einer reinen Internet-Recherche, ohne Merton gelesen zu haben, das sollte aber für die Wikipedia nicht ausreichen).
Natürlich ist das ein Einzelfall und nicht repräsentativ; natürlich belegt der Einzelfall auch nur, dass man natürlich auch Wikipedia-Artikel äußerst kritisch lesen muss, wie jedes andere Nachschlagewerk auch. Und natürlich zeigt sich auch hier wieder nur die derzeitige Richtungslosigkeit der Wikipedia zwischen populärem (Trivial-) und wissenschaftlichem (Fach-) Wissen: Die Blocklaus hätte das Problem überhaupt nicht, dort findet man entsprechende Artikel gar nicht erst; hätte Wikipedia einen ebensolchen rein nicht-wissenschaftlichen Anspruch (à la "Konversationslexikon"), gäbe es auch kein Problem; stellte man aber höhere Anforderungen an die Wikipedia als an konventionelle allgemeine Nachschlagewerke à la Blocklaus, würde die mangelhafte Aufarbeitung des Artikels ein echtes Problem aufzeigen. Und eigentlich sollten wir uns doch einig sein, dass wir mit der Wikipedia signifikant über das Niveau von Blocklaus und Britannica hinausgehen wollen und werden...
MfG -asb