Liesel, Achim, Pavel…,
Eine Grippe hielt mich vom Internet fern. Gehen wir die Dinge der Reihe
nach durch.
Liesel behauptet, mein Satzungsentwurf verschiebe die Macht in die Hände
des Gutachtergremiums. Ich las das mit Interesse, da ich hier eine
Institution ohne alle Entscheidungskompetenz in den Raum stellte.
Vielleicht klären wir, in welchen speziellen Momenten ein Vorstand oder
Aufsichtsrat gerne entscheiden möchte, ohne ein Gutachten zur Kenntnis
nehmen zu müssen.
Auf eine Kleinigkeit will ich im selben Zusammenhang verwiesen haben:
Das Gutachtergremium befasst sich nur mit Projekten, die die Community
dem Aufsichtsrat zur Kenntnis bringen möchte. Es sichert jedem aus der
Community zu, dass seine Ideen beachtet werden. Die Arbeiten aus dem
Bereich der Geschäftsführung: Fundraising, Haushalt, Lobbying,
Pressearbeit – sind hier nicht betroffen. Es gab in der Vergangenheit
Konflikte zwischen Vereinsmitgliedern und Vereinsführung. Man beklagte
von beiden Seiten, dass sie unsachlich von statten gingen, ich baue ein
Gutachtergremium ein, über das die Community ihre Beiträge bewertet an
den Vorstand bringt – und der Vorstand hat Sorge, sich dieser
kompetenteren Artikulation stellen zu müssen? Ich wüsste gerne, welche
spezielle Macht hier bedroht ist.
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Gehen wir, um das Ganze besser zu illustrieren, sodann die beiden
Konflikte durch, die ich selbst für „schlecht gelaufen erachtete“ und
bei denen ich mir sagte: Unser Verein muss so was in Zukunft besser
können. Ich ging beide Fälle bereits am Abend des 3. Juli 2010 nach der
ersten Sitzung der AGV mit Pavel in einer Straßenpizzeria Berlins im
Detail durch, um zu erfahren, wie unser Verein sich in solchen
Problemsituationen der Projektarbeit im Moment organisiert – auch im
Interesse an der Struktur unserer Konflikte.
Problemfall eins war Skillshare. Abstrahieren wir den Konflikt. Eine
Antragstellerin hat ein Projekt und stellt es dem Vorstand vor, dieser
verweigert die Unterstützung. Prinzipiell ist hieran nichts auszusetzen:
Gute Projekte werden gefördert, schlechte abgewiesen. Ich bin an dem
Konflikt in einer strukturellen Komponente interessiert: Unser Verein
hat 600 Mitglieder und wächst – gehen wir davon aus, dass es bei dieser
Größe keine homogene Mitgliedschaft geben kann. Es wird regelmäßig
vorkommen, dass Einzelne oder große Gruppen sich im mit einem
Aufsichtsrat und einem Vorstand zurechtkommen müssen, den sie nicht
gewählt haben und dessen Repräsentanten ihnen mit persönlichen
Vorbehalten begegnen. Nehmen wir also allein für die Dauer dieses
Gedankenspiels an, dass Nadine im Verein einer Gruppe angehört, die sich
des Misstrauens des Vorstands versichert sein kann und umgekehrt. Wie
sichern wir nun, dass der Wikimedia Aufsichtsrat und Vorstand auch
vereinsinternen Konkurrenten bei der Projektarbeit fair begegnen? Da wir
hier Gelder vergeben und da dies auch meine Gelder sind, bin ich mir
gerne versichert, dass meine Vereinsführung sie nicht fortgesetzt nur
meinen Gegnern zuschanzt, plakativ gesprochen. Weniger plakativ
gesprochen: Es könnte sein, dass wir unter uns extrem kompetente Leute
mit guten Ideen haben, die große Projekte stemmen können und die allein
darum nicht zum Zuge kommen, da sie Gegner des Vorstands sind. Ich hätte
gerne einen Verein, der von der Vielzahl der Initiativen profitiert.
Im Gespräch mit Pavel war ich am 3. Juli erst mal irritiert darüber,
dass er die Entscheidung, ob WMDE bei Skillshare mitmache oder nicht,
überhaupt in seiner Hand hatte – die Satzung sah das, glaube ich, gar
nicht vor. Ich versuchte zweitens herauszubekommen, wie er das machte.
Pavel versicherte mir, dass ich an seiner Stelle nicht anders
entschieden hätte. Das, was Nadine ihm vorlegte, sei keiner eingehenden
Begutachtung wert gewesen, er habe ihr gesagt, dass er das „für das
falsche Projekt am falschen Ort zur falschen Zeit halte“.
Ich registrierte für mich, dass das nicht nach irgendeiner
Entscheidungsprozedur aussah – als Dozent muss ich mich meinen Studenten
konstruktiver stellen, und immer muss ich dazu eine kleine Begutachtung
verfassen, in der ich zur Kenntnis nehme, was meine Studenten erreichen
wollten. Kommt hinzu, dass ich mich mit Pavel schon in Lüneburg darauf
verständigen konnte, dass das Urteil effektiv ein Fehlurteil war. Das
war die richtige Veranstaltung zum richtigen Zeitpunkt am richtigen Ort;
die Antragstellerin hatte etwas geleistet, was sie so nur an ihrem
Heimatort leisten konnte, hatte das volle Register von politischen bis
zu freundschaftlichen Kontakten ausgespielt. Pavel meinte, im Ergebnis
habe er die Sache falsch eingeschätzt, die Entscheidung selbst sei
jedoch gut gelaufen, das was man ihm vorlegte, habe damals sein
schlichtes abschlägiges Urteil verdient.
Ich schließe daraus, dass wir genau hier – im Entscheidungsprozess –
strukturelle Änderungen vornehmen müssen: dem Entscheider muss was
Ordentliches vorgelegt werden, der Antragsteller muss sich auf der
anderen Seite sicher sein können, dass es angemessen beurteilt wird. Ich
im Verein muss mir sicher sein können, dass der Entscheidungsprozess
irgendwelchen Regeln unterliegt. Ich weiß im Moment nicht, wie Pavel in
die Position des Entscheiders kam, noch weiß ich, wie er damit umging,
dass er eine Gegnerin des Vorstands vor sich hatte. Ich rechne damit,
dass er sich sagte: Gerade hier muss ich über jeden Verdacht des
persönlichen Urteils erhaben bleiben – weder das ist ihm jedoch
glücklich gelungen noch gelang ihm ein Urteil, das dem Test der Zeit
standhielt, stattdessen erlebten wir eine vereinsinterne Zerreißprobe.
WMDE hat selbst im letzten Jahr nichts vergleichbar Komplexes
organisiert. Ich denke, wir müssen hier umdenken und wenn wir nicht über
Personen nachdenken, dann denken wir sachlich über
Entscheidungsstrukturen nach, auch über etwas mehr Transparenz. Auch das
ist meine Erfahrung: Persönlich gefärbte Entscheidungen nehmen ab, je
klarer man Prozeduren organisiert. Die Leute bekämpfen sich dann
woanders, wo es weniger schmerzt.
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Für den zweiten Testfall wählte ich ein laufendes Projekt aus, um in die
langfristige Projektarbeit zu geraten: die Zedler-Medaille. Pavel wollte
wissen, welches Problem ich mit ihr sähe. Ich notierte, was wir vor
Jahren mit der Medaille erreichen wollten und gegenwärtig mit ihr
erreichen. Pavel hörte zu und meinte am Ende, er teile meine Sicht in
vielen Punkten. Ich würde ihm einen großen Gefallen tun, wenn ich das
alles so, wie ich es ihm soeben sagte, in der Mailingliste gegen die
Zedler-Medaille in Anschlag brächte.
Ich schwieg erst mal (verwirrt) – die Mailingliste ist kein
Vereinsorgan. Er hätte auch sagen können „Die Medaille wird dann und
dann erneut evaluiert, Verbesserungsvorschläge werden im Prozess gemacht
werden, sie kommt dann in einen neuen Entscheidungsprozess, nimm an der
Evaluation teil.“ Statt auf ein Standardverfahren war ich indes auf
meine Rolle in der Mailinglist verwiesen. Was genau kann ich erreichen,
wenn ich im Juli plötzlich die Medaille angreife? Riskiere ich nicht in
eine Kategorie der Vereinsnörgler zu geraten, die nichts Besseres zu tun
haben, als den Verein fortlaufend öffentlich anzugreifen? Pavel meinte
auf mein Zögern, das genau sei sein Eindruck: In der Mailinglist
herrsche Ruhe bis zu den Wahlen, da werde nur gepostet, um den Vorstand
anzuschwärzen. Also ließ ich mich auf das Modell der Vereinsarbeit über
die Liste ein und fragte, was passieren werde, wenn ich jetzt im Juli
den Angriff ausführte. Pavel meinte, dann werde (und das liest sich
jetzt seltsam, da Achim soeben in exakt der Rollenverteilung mir
gegenüber agiert) – dann werde Achim Raschka in der Liste gegen mich
Stellung beziehen und die Medaille verteidigen. Ich fragte, warum ich
das wünsche sollte? Er meinte, dass es meine Meinung relativieren werde.
Nach Achims Gegenangriff werde meine Meinung in seinen, Pavels, Augen
gegen Achims stehen. Er könne natürlich nicht irgendeinem
Vereinsmitglied folgen. Der Streit in der Liste werde es ihm aber
erlauben, die Sache intern zur Debatte zu stellen und überfällige
Entscheidungen im Blick auf kursierende Kritik intern einzufordern.
Ich fand das erhellend und prekär – hier wird keine
Meinungsbildungsprozess gefordert, sondern Streit zur Neutralisierung
von Positionen. In der Mailinglist spielen wir gegeneinander als
Vereinsangreifer und Verteidiger – der Vorstand gewinnt dabei die einzig
reelle Position, die Sache zu schützen. Mein Fazit blieb auch hier, dass
wir reguläre transparente Evaluationsverfahren als Gegenstück zu den
Begutachtungsverfahren im Vorfeld benötigen. Wir können das Problem
lösen, wie wir es im Moment tun: Man lässt Dinge köcheln bis es lauten
Unmut gibt, dann kann der Vereinsvorstand sich profilieren als die
Instanz der Sacharbeit – oder man öffnet die Sacharbeit, und dann
erspart man sich, was momentan die Mailingliste als Ventil sucht.
Tatsächlich denke ich (und ich verfolge die Liste seit Jahren), Euch
eine sehr rationale Problemlösung vorgeschlagen zu haben.
Das Gutachtergremium steht, wie gesagt, nicht der gesamte Vereinsarbeit
gegenüber – es überprüft nicht Pressearbeit und Fundraising. Es
entscheidet auch gar nicht. Es ist allein an der Nahtstelle zwischen
Community und Vorstand eingesetzt, dort wo WMDE Arbeit der Community
fördert. Ich lege dieses zahnlose Gremium nicht nahe, da ich gerne alles
kompliziert hätte, sondern, da ich seit drei Jahren an dieser Nahtstelle
einen Dauerkonflikt sehe. Und auch das mag bedacht sein – man schreibt
Satzungen für Notfälle. Achim mag Recht haben, und wir haben mit Pavel
den besten aller Entscheider gefunden, dem jedes Mitglied mit vollstem
Vertrauen begegnen kann, da er das Wiki-Prinzip der Entscheidung
versteht. Das Problem mit der Konstruktion einer Satzung ist, dass sie
ihren Wert an bösen Köpfen muss. Achim sollte – knapp formuliert –
überlegen, ob er auch von Nadine gerne im „Wiki-prinzip“ behandelt sein
will. Vermutlich wird er bei anderen Köpfen an der Spitze meine Satzung
als persönliche Sicherheit verstehen.
Das noch am Ende: Wir wissen nicht ganz genau, wie oft wir die Gutachter
überhaupt brauchen werden. Wie viele Projekte laufen bei uns? Ein
Dutzend? Wie oft kommt eine neue Kiste wie Skillshare auf uns zu? einmal
im Jahr? Das halte ich für keine Blockade des Vereins in einer so
überschaubaren Zahl der Fälle eine bestimmte Auseinandersetzung mit
unseren Projekten einzufordern. Ich denke unsere Mitglieder und die
Community, deren Arbeit wir fördern sollen, verdienen so viel Sorgsamkeit.
bester Gruß und die der Jahreszeit angemessenen Wünsche,
auch die Bitte um Verzeihung für die lange Post,
Olaf