Nun ja, Jürgen -
nur an den Fragen, die ich gestellt haben wollte, geht das vorbei: Wie können wir verhindern, dass Wissenschaftler, wenn sie bei uns schreiben, eine bestimmte Arbeitsleistung effektiv für sich selbst unbrauchbar machen?
Wenn ich bei der ''Enzyklopädie der frühen Neuzeit'' einen Artikel schreibe, steigert das meinen Marktwert. Andere Handbücher und Lexika werden mich um ähnliche Perspektiven bitten.
Wenn ich dasselbe in Wikipedia veröffentliche, mache ich es mir unmöglich, selbst danach noch einmal eben das abgewandelt zu sagen (trotz Creative Commons und trotz der Tatsache, dass ich der Autor bin). Original Research ist dabei gar nicht unbedingt meine das was ich verschenke. Die Leistung in einem Artikel wie [[Roman]] oder [[Aufklärung]] ist es, mit breiter Lektüre Linien durch ein unwegsames Gelände zu legen, Aspekte konsistenter in den Blick zu nehmen, im Artikel Fragen aufzuwerfen und sie dann auch zu verfolgen. Sollte ich eine Veröffentlichung andernorts zum Thema machen, werden meine Peer-Reviewer das Gefühl haben: Der holt sein Wissen aus Wikipedia, dem fällt keine bessere Herangehensweise und keine bessere Gliederung und Problemstellung ein, als diese...Ich könnte natürlich in der ''Enzyklopädie der frühen Neuzeit'' in einer Fußnote vermelden, dass ich das alles ausführlicher in Wikipedia sagte, auch eine Art Selbstmord. Ich weiß auf diese Frage ehrlich gesagt keine gute Antwort.
Dass wir Autoren von Artikeln benennen, ist nicht unser Ziel. Und das bringt mich zu dem von uns allen zur Kenntnis genommenen Paradox: Die Zedler-Medaille bricht mit unserer gesamten Selbstdefionition des kollektiven Lexikons: da steht plötzlich einer als Hauptautor im Raum, kassiert den Preis ab, gibt vielleicht gar sein Pseudonym dafür preis oder wir eiern drumherum - er kriegt ein Photo aber keinen bürgerlichen Namen... Unsägliches wird dabei zu der heimlichen Elite von Wikipedia dem anwesenden Publikum eröffnet, dem wir plötzlich erklären, dass unsere besten Artikel nur von jeweils einem Autor stammen (ich war auf der Veranstaltung).
Einfach nur zu sagen: wir werden immer wissenschaftlicher, das ist zu einfach - es erklärt uns nicht, warum wir mit bestimmten Autoren ein Problem haben. Meine Kollegen am hiesigen Forschungszentrum kann ich nicht dazu verlocken, den Aufklärungsartikel zu überarbeiten. Sie halten es für extrem unprofessionell, dass ich in einem solchen Medium mein Wissen "verbrate". Spaßig finden sie meinen Spaß daran im selben Moment, da sie alle WP benutzen. Mir gibt das zu denken, dass ich meine eigenen Kollegen, die täglich WP nutzen, nicht gewinnen kann. Theoretisch könnten die ein Kontaktnetz in WP aufbauen, sich als Wissenschaftler darin treffen - das tun sie in Facebook und auf Konferenzen, aber nicht bei uns. Und auch das ist eben eine Frage: Angenommen Prof. X schreibt einen Artikel. Würden wir den denn wirklich gerne auf dem Podium die Zedler-Medaille verleihen? Ich weiß nicht, ob das gut wäre - die Medaille hat gerade im Moment ihren Charme, da sie Unbekannte plötzlich aus dem Nichts heraus ehrt.
Ich habe da jede Menge gemischte Gefühle und sehe nicht ein Nachdenken über die Situation, die wir suchen. Kompass 2020 ist da blumig mit einer netten Prozentangabe für Akademiker. Im Konkreten sind die Schritte eher prekär. Das fällt im Moment nicht auf, da wir uns für jede deutsche Institution als Partner gut machen - davon leben wir, nicht so sehr vom guten Konzept, das mit der Zedler Medaille oder unseren Versionsgeschichten präsent wird. Im Moment sind Studenten mit wissenschaftlichen Ambitionen unsere Traumautoren - alles andere ist unrealistisch gedacht.
Noch eins: Es könnte gut sein, innerhalb von WP besser abzugrenzen, was allgemein und was wissenschaftlich ist. Die Enzyclopaedica Britannica hatte da die Trennung in Micro and Macropaedia - mehrere Bände kurze Artikel gegenüber mehreren Bänden mit ausgewählten Großartikeln von Wissenschaftlern für Wissenschaftler. Bei uns gibt es recht unentschieden Artikelanfänge für Jedermann und Fortlaufendes, was mitunter nach drei Sätzen nur noch für den wissenschaftlichen Nachwuchs verständlich ist.
Denkbar eine farbig unterlegte Sektion Allgemeinwissen und eine wissenschaftliche Sektion - das mag vor allem nach außen signalisieren, dass wir uns jetzt nicht mehr als Allgemeinlexikon für Oma, sondern als beides definieren: aktuelle algemeine Ressource und Konkurrenz für wissenschaftliche Lexika. Denkbar auch, dass wir uns irgendwie ostenativer zu Autoren bekennen, wo diese ihr Fach einbringen, und unseren Lesern ein Gefühl geben, dass sie sich dem Artikel anvetrauen können, da hier jemand mit Studium des Faches schrieb. Ich sage das nicht, um genau das zu erreichen. Ich weiß durchaus nicht, ob WP danach noch dasselbe ist. Ich sage es eher als Denkanstoß dazu, wohin Entwicklungen theoretisch laufen könnten. Ich hätte da gerne ein klareres Nachdenken über die WP von morgen. Möglich ist ein Nachdenken mit Modellen, gegen die wir uns entscheiden, aber die wir benennbar durchdacht haben...
Gruß, Olaf
Juergen Fenn schrieb:
Am 26.11.10 15:27 schrieb Olaf Simons:
Ich denke, wir werden darüber nachdenken müssen, dass WP kein Medium für wissenschaftliche Arbeit ist. Sie reflektiert diese im optimalen Fall kritisch, und das haben wir intern so halbwegs begriffen, wenn wir Sätze wie no original research formulieren. (ist natürlich Unsin, da was immer ich als Mann vom Fach schreibe, untrennbar mit meiner Perspektive verbunden ist - und gerade das wil jedes andere Lexikon, das mich um einen Beitrag bittet). [...]
Zur Zeit regiert in WP und WM die Vermutung, dass es eine wissenschaftliche WP geben könne. [...]
Sehr spannende Diskussion, schön, daß ich rechtzeitig wieder online bin. ;-) Da gehen aber einige Punkte durcheinander, die ich gerne trennen würde:
- (Auch meine) Forderung nach wissenschaftlichen Belegen für
WP-Artikel. Die kann nur erfüllen, wer selbst wissenschaftlich ausgebildet ist und aufgrund dessen selbst mit Quellen arbeiten und sie zitieren kann. Wir brauchen also nicht unbedingt "Wissenschaftler" als Autoren, aber wissenschaftlich ausgebildete Autoren, weil das eine Voraussetzung für fundierte Artikel ist.
- Die Schwierigkeiten, mit denen speziell Wissenschaftler konfrontiert
sind, die etwas zu WP-Artikeln beitragen möchten. Natürlich liefern sie dann "original research" ab -- was denn sonst? Das macht aber nichts, solange ihre Beiträge alle erheblichen Fundstellen zutreffend zitieren und keine Meinung unterschlagen wird. Soweit sich hier "Schlagseite" ergeben sollte, kann sie im Wiki weiter diskutiert und verarbeitet werden.
- Der Umgang der Benutzer mit dem Material, das sie der WP entnehmen
können: Je kompetenter der Benutzer ist (sowohl allgemein, d.h. im Umgang mit Medien, als auch speziell im Umgang mit dem Wiki "Wikipedia", als auch fachlich, bezogen auf den einzelnen Artikel), desto "besser" wird er mit Wikipedia umgehen können. Insoweit könnte man das Schulprojekt durchaus auf den universitären Bereich ausdehnen, gerade weil es sich bei Wikis um eine ganz neue Form von Quellen handelt, mit denen man erst einmal umgehen lernen muß.
Und ich würde mir tatsächlich wünschen, daß Wikipedia irgendwann einmal zumindest neben die etablierten Handbücher etc. treten kann und damit wissenschaftliche Information nachhaltig wirklich frei zugänglich wird. Das ist zumindest mein Ziel, wenn ich an juristischen Artikeln mitschreibe, wo weiterhin die großen Fachverlage und Datenbankeanbieter ihr Informations-Oligopol innehaben. Die Angabe "Juris-Dokument Nr. ..." (Preis für Einzelnutzer: 1800 Euro/Jahr für die Vollversion, obwohl mit Steuergeldern aufgebaut und immer noch mehrheitlich im öffentlichen Besitz) gilt als wissenschaftliches Zitat, während "http://de.wikipedia.org..." keines sein sollte? Das sollte man schon ändern, finde ich.
Jürgen.
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