[Wikide-l] Die gefühlte und die echte Willkür

Kurt Jansson jansson at gmx.net
Di Jan 22 07:36:05 UTC 2008


Hallo Philipp,

auch von mir: Danke für die vielen wahren Worte!

Du hast das Wort "Bürokratie" zwar vermieden, weil es recht negativ
besetzt ist, aber ich zitiere mal aus der Wikipedia zu Max Webers
Bürokratiebegriff:

> Im Gegensatz zur traditionalen und charismatischen Herrschaft
> verhindert die Bürokratie Bevorzugung oder Benachteiligung Einzelner
> in Form von willkürlichen Entscheidungen, weil sich alle an die
> gleichen und rational begründeten Spielregeln, bzw. Gesetze (eine
> gesetzte Ordnung) halten müssen. Der Bürokratiebegriff Webers ist
> somit ein positiver.

Und ich stimme Dir voll zu, dass die Transparenz von Entscheidungen für 
den Betroffenen von grundlegender Wichtigkeit ist, und dass wir hier und 
bei der Gleichbehandlung derzeit unsere größten Schwächen haben.

Allerdings glaube ich, dass die konsequentere Niederschrift tradierter 
Vorgehensweisen uns nur begrenzt weiterhelfen wird. So gibt es meiner 
Einschätzung nach bei der Löschprüfung, und noch mehr bei den 
Benutzersperrungen, noch immer keinen etablierten Konsens. (Ist bspw. 
eine Benutzersperrung eine Sanktion, eine Erziehungsmethode oder doch 
nur ein rein pragmatischer Eingriff? Diese Unterscheidung bestimmt, 
welche Zeitskala bei einer Sperrung überhaupt herangezogen wird.) 
Nichtsdestotrotz ist es sicher sinnvoll, durch die schriftliche 
Festlegung von Regeln in diesen Bereichen einen Konsens - nach 
sicherlich vielen Wochen der Diskussion - herbeizuführen; hat ja in 
anderen Bereichen auch geklappt.

Soviel zur Gleichbehandlung. Dass Entscheidungen hierdurch schon 
transparenter werden glaube ich allerdings nicht. In sehr vielen Fällen 
wird der betroffene Nutzer überhaupt nicht wissen, auf welcher Grundlage 
eine Entscheidung gefällt worden ist und wo diese nachzulesen wäre. Im 
direkten Gespräch lässt sich vieles aufklären. Wenn man den Leuten am 
Rechner zeigt, dass z.B. die Begründung eines Reverts in der 
Versionsgeschichte nachgelesen werden kann, wie viel Hinschmalz in die 
Ausarbeitung der Relevanzkriterien geflossen ist und wo über die 
Löschung ihres Artikels diskutiert worden ist, so wird die getroffene 
Entscheidung meist akzeptiert - und manchmal sogar verstanden ;-)

Mal exemplarisch ein konkreter Fall, der mir kürzlich untergekommen ist: 
Ein Dozent hat mit seinem Kurs im Lauf eines Semesters einen langen 
Artikel zu einem pädagogischen Thema erstellt. Am Ende des Semesters 
wurde der Artikel in die Wikipedia eingestellt. Er kassierte einen 
Löschantrag und wurde später gelöscht. Einer der Studenten, der sich 
während eines Wikipedia-Vortrags von mir zu Wort meldete und den Fall 
schilderte, sagte, man hätte damals nur mitbekommen, dass der Artikel 
plötzlich verschwunden sei. Von der Löschdiskussion hatte er (und wohl 
auch die übrigen Teilnehmer) nichts mitbekommen. Als ich dann die 
Löschdiskussion und auch den gelöschten Artikels selbst zeigen konnte 
wurde klar, dass der Text viel zu essayistisch abgefasst worden war. 
Nach ein paar weiteren Erläuterungen hatte ich das Gefühl, dass die 
Entscheidung von den meisten Anwesenden für richtig befunden wurde.

Aber dieses An-die-Hand-nehmen wird in der Wikipedia derzeit zu wenig 
geleistet - zum einen, weil die Ressourcen dafür fehlen, zum anderen 
aber auch, weil es einfach nicht üblich ist.

Viele kleinere Hürden, wie etwa der ständige Gebrauch der 
WP:Irgendwas-Abkürzungen ohne eine Verlinkung, sind weitere Knüppel 
zwischen den Beinen neuer Autoren. Zum Problem der gewachsenen 
Einstiegshürden hatte ich heute auch schon was geschrieben:
http://de.wikipedia.org/wiki/Wikipedia_Diskussion:Kurier#R.C3.BCckgang_bei_neuen_Artikeln 


Viele Grüße
Kurt