[Wikide-l] Interview Rheinischer Merkur

Agon S. Buchholz asb at kefk.local
Sa Jan 15 03:13:54 UTC 2005


Bernd Kreissig wrote:

> Der Brockhaus hingegen ist ein Produkt, dessen Wert u.a. darin 
> besteht, das wirklich wichtige Wissen [...] zu präsentieren [...]

Diesen Satz muss ich mir einrahmen und übers Bett hängen und in
Momenten des Zweifelns an der Wikipedia immer wieder lesen.

Schön zu wissen, dass es in Zeiten wie diesen noch Einrichtungen gibt, 
die zu wissen meinen, was wirklich wichtig ist -- wie früher mal der 
Heilige Stuhl. Schon damals wusste der kritische Teil der Menschheit, 
dass man Leuten, die Pretiosen wie die unbefleckte Empfängnis zur nicht 
hinterfragbaren Lehrmeinung erheben, ganz sicher nicht trauen sollte. 
Wenigstens das schuf doch durch eine kleine Abstraktionsleistung etwas 
Sicherheit in der Frage, was und wem man besser nicht glauben sollte;)

 > Und schließlich kann die Wikipedia nicht formal und inhaltlich
 > ausgewogen sein - welche Themen wie und in welchem Umfang und
 > Form behandelt sind, hängt von der Verfügbarkeit von Freiwilligen ab.

Welch abgeklärter Standpunkt, frei von Sachzwängen, materiellen 
Rahmenbedinungen, verfügbarer Literatur, kommunikationsfähigen Experten 
und nicht zuletzt dem Pisa-Problem, von dem wohl auch 
Lexikon-Redaktionen nicht verschont bleiben dürften. In welcher fernen 
Galaxis muss man leben, um sich frei von all diesen Zwängen zu fühlen?

Der Anspruch des NPOV ist keinen Deut weniger realisierbar als der einer 
angeblichen "Ausgewogenheit". Auf die Illusion des NPOV hin prüft 
wenigstens eine Vielzahl kritischer Augen, die um so mehr werden, je 
prekärer der Gegenstand ist. Wer andererseits wie und warum auf die 
vorgebliche "Ausgewogenheit" hin prüft, weiß wohl niemand genau -- wer 
wägt da eigentlich wann und warum was ab? Ist irgendwo transparent 
nachvollziehbar, welche Selektionsprozesse ablaufen, um diese angebliche 
"Ausgewogenheit" herauszufiltern?

Gibt es für Normalsterbliche (tm) irgendeine Möglichkeit, den Göttern 
der Ausgewogenheit (tm) auf die Finger zu schauen, oder spielt sich all 
das im Olymp der Wahren Einsicht (tm) jenseits Menschlicher Banalität 
(tm) ab? Oder muss der Banale Mensch (tm) einfach blind der Höheren 
Erkenntnis (tm) dank der Wahren Einsicht (tm) glauben?

Irgendwie klingt das alles mehr nach Religion als nach zeitgemäßer, 
überprüfbarer, kritisierbarer, reproduzierbarer und nicht zuletzt 
falsifizierbarer Wissenschaft.

MfG -asb