[Wikide-l] Interview Rheinischer Merkur

Mathias Schindler neubau at presroi.de
Do Jan 13 21:30:46 UTC 2005


Bernd Kreissig wrote:

Guten Abend allerseits,

> Die
> letzte Antwort in Sachen "Rechtelage" könnte man als MS-artiges FUD-Gebahren
> in Richtung Linux deuten. 

Könnte man sicherlich über zwei Argumentationsketten, mindestens 
(Einzelne URVs oder eben die Attributierungsprobleme). Mit dem 
steigenden Grad der Konkretisierung schwindet der Raum, daraus einen 
FUD-Vorwurf zu machen.

> Ich möchte dazu klar sagen: Es geht überhaupt
> nicht darum, dass wir Directmedia oder Anwender der Directmedia-CD in irgend
> einer Weise ans Zeug flicken wollen,

Das ist gut zu hören, wobei ja leider so ein Satz nicht in alle Zukunft 
einforderbar ist.


 > Übrigens hat auch
> Brockhaus darüber hinaus eine riesige Anzahl von Freiwilligen, die die
> Qualität sichern und verbessern helfen. 

Indirekt gehöre ich ja wohl auch dazu, zumindest wenn man die Reaktion 
auf ein öffentliches "Lemma X ist aboluter Müll" als Beginn einer 
Qualitätssicherung wertet. Dazu gehört ja auch zum Beispiel die Reaktion 
auf Testberichte (oder die Nichtreaktion -> Horst Köhler).

Wobei ich hier bei Freiwilligkeit auch schon mit Einschränkungen komme. 
Um sich zur Freiwilligkeit bei Brockhaus zu qualifizieren, muss ich 
erstmal Geld auf den Tisch legen, damit die Redaktion in Leipzig und Sie 
  und die anderen im Team ihr Gehalt bekommen. Freiwilliges Feedback aus 
Kundensicht hat leichte Anleihen am Lehrgeld, das für die Lehre beim 
Meister fällig wurde, auch wenn der Vergleich übertrieben ist.

> Sie glauben gar nicht, wieviele
> Zuschriften mit Hinweisen oder Vorschlägen wir von unseren Benutzern
> kriegen. Nur dass die eben nicht direkt in die Artikel wandern, sondern
> vorher von einer erfahrenen Redaktion geprüft werden.

Wäre es nicht sogar vielmehr ein Qualitätsmerkmal, wenn der Anteil der 
berechtigten Verbesserungsvorschläge sänke und statt dessen nur noch 
Querulanten aufträfen? Es gibt kein perfektes Produkt, aber eigentlich 
sollte ein Lexikon ja keine Banane sein, die erst beim Kunden reifen muss.

>>- ob sich Wikipedia jetzt schon in irgendeiner Form bei Ihnen
>>bemerkbar macht?
> 
> Im Moment in allererster Linie dadurch, dass es viele Anfragen von
> Journalisten dazu gibt. Insgesamt trägt das Wikipediaprojekt dazu bei, das
> Thema "Lexikon" und "Allgemeinwissen von A-Z" einmal mehr zur allgemeinen
> Aufmerksamkeit zu bringen, und das ist gut so. Und natürlich beobachten wir
> die Entwicklung genau, u.a. weil sie eine gute Gelegenheit bietet,
> Gewohnheiten und Erwartungen von Menschen bei der Suche nach und Rezeption
> von Sachwissen zu beobachten.

Wikipedia als Laborglaskasten zur Marktforschung - grob verkürzt. Dass 
Wikipedia dafür sorgt, daß es in einen (wenigstens digitalen) Brockhaus 
auch mal ein Daniel Kübelböck (okay, zu hart, sagen wir: Dieter Bohlen) 
schafft.

>>- trauen Sie Wikipedia zu, verlässliche Inhalte zu schaffen?
> 
> 
> Auf jeden Fall, denn Wikipedia ist diesbezüglich nicht anders als das
> Internet insgesamt: Man kann darin ganz hervorragende Dinge finden. Man kann
> aber - ebenfalls wie im Internet - genauso gut haarsträubenden Unsinn
> finden. 

Der erste Satz, den ich nicht so stehen lassen würde. Bzw. den ich in 
dem gleichen Verallgemeinerungsgrad auch für den Brockhaus multimedial 
gelten lassen würde.

Dass die Wikipedia im Anteil von Brillianz:Crap derzeit nicht den Stand 
der BE hat und ohne zusätzliche Maßnahmen der Stabilisierung von 
Artikeln auch nicht erreichen wird, ist klar.

> Je nachdem an welcher Stelle die so genannten "Edit-Wars" gerade
> toben, wechseln in ein und demselben Artikel Extrem-Meinungen im
> Minutenrhythmus; was man zu sehen bekommt, hängt dann von der Uhrzeit des
> Aufrufs ab. 

Ack.

> Zwar kann man sich dann die Gestehungshistorie des Artikels
> anschauen, aber das ist dann schon vergleichsweise mühsam. 

Ack. Aus meiner Erfahrung mit Nichtwikipedianern weiss ich, daß diese 
Funktion spät entdeckt wird.

> Vor allem aber
> gilt: Um zu beurteilen, welche der Aussagen nun stimmen und welche nicht,
> braucht man eigentlich Fachkenntnisse - und das in eben dem Gebiet, welches
> man gerade nachschlägt, d.h. in welchem man sich offenbar gerade erst kundig
> machen möchte. 

Ack

> Und schließlich kann die Wikipedia nicht formal und
> inhaltlich ausgewogen sein - welche Themen wie und in welchem Umfang und
> Form behandelt sind, hängt von der Verfügbarkeit von Freiwilligen ab.

Diese Formulierung finde ich zu passiv, sie unterschlägt die sozialen 
und technischen (...begrenzten) Steuerungsmöglichkeiten, die sich analog 
zu dem verhalten, was ein Verlag an Policy fährt (etwa die wohl 
legendäre Sportfeindlichkeit von Brockhaus).

> Spottbillige CDs und DVDs gibt's auf den Grabbeltischen schon seit vielen
> Jahren. 

Gemessen daran, was die LexiROM mal gekostet hat, ist doch die Encarta 
heute auch ein Fall für diese Kategorie.

> Da haben wir uns durchaus sehr gut drauf eingestellt. Durch
> konsequenten Ausbau der Qualität unserer Produkte drängen wir den
> Marktanteil dieser Billigscheiben seit Jahren immer weiter zurück. 

Das läßt sich diskutieren und im Zweifelsfall ist es eine Abstimmung mit 
den Füßen, was nun "Qualität" ist.

> - Das
> kostenlose Internetangebot der Wikipedia 

feinsinnig differenziert.

> möchte ich eigentlich nicht als
> Konkurrenz zum Brockhaus verstehen, und diese Sicht äußern auch prominente
> Wikipedia-Aktivisten auf der Mailingliste der Wikipedia selbst. Viele
> Beobachter warten z.B. gespannt auf den Moment, in welchem das
> Wikipediaprojekt genauso viele Artikel wie der Brockhaus aufweist. Ich
> selber warte eher auf den Tag, an dem sie zehnmal mehr Datenbankeinträge
> hat: 

Bevor Wikipedia kam, hatte ein Mannheimer,Leipziger,Wiesbadener Verlag 
genug Gelegenheit, diese Metriken einzuführen. Von der 21. Auflage weiss 
man bisher (publiziert) wenig, bis auf Lemmazahl, Bändeanzahl und 
diffuse "multimediale Feuerwerke" vom Chefpyromanen.

> Dann wird besser sichtbar sein, dass diese Erbsenzählerei nichts
> aussagt. Die Wikipedia ist ein Projekt, charakterisiert durch das Anliegen,
> möglichst viele Informationen zu sammeln bis hin zu Artikeln wie solche über
> vergleichsweise unwichtige Romangestalten
> (http://de.wikipedia.org/wiki/Intschu-tschuna). Der Brockhaus hingegen ist
> ein Produkt, dessen Wert u.a. darin besteht, das wirklich wichtige Wissen
> geprüft und in konsistenter Form zu präsentieren - und auf Artikel wie
> solche über Winnetous Vater zu verzichten.

Seit [[Kuhfladen-Bingo]] schockiert mich nur noch wenig, auch nicht der 
fiktive Vater eines fiktiven Rumänen. Cetereum censeo...

> Zunächst: Die Wikipedia-Inhalte sind nicht einfach "frei", sondern stehen
> unter der GFDL (Gnu Free Document License).

Ganz wichtig: Ich würde mich bei dem ganzen Themengebiet GPL niemals auf 
den BMM verlassen, sonst käme man tatsächlich umhin, die freien Texte 
als frei-frei-frei zu betrachten.

> Diese Lizenz entstammt dem
> angelsächsischen Raum mit seiner gänzlich anderen Urheberrechtstradition und
> diente ursprünglich der Verbreitung von Software-Dokumentationstexten. 

*seufz* Wie wahr.

> Die
> Anwendung dieser Lizenz, die Voraussetzung für jegliche Weiterverwertung der
> Wikipediatexte ist, wäre rechtlich gesehen mindestens ein Vabanquespiel.
> Eine erste kommerzielle Ausgabe der deutschen Wikipedia auf CD-ROM, die 2004
> erschien, verstieß wahrscheinlich bereits gegen Regelungen dieser Lizenz.

s.o.

> Neben solchem juristischen Glatteis sind es aber in erster Linie die
> inhaltlichen und konzeptionellen Unterschiede, die verhindern, dass man
> einfach die Artikel der Wikipedia in den Brockhaus einstellen könnte.

Zustimmung. In den Gedankenstrukturen des Brockhaus (so, wie ich sie 
mitbekommen habe) wäre es wohl nicht akzeptabel, einen 15 Seiten starken 
Text zur Atombombenexplosion zu haben, wenn die Atombombe nur 8 Seiten 
lang ist.

> Nichtsdestoweniger: Wir haben die Wikipedia-Macher als engagierte Community
> kennengelernt, die eine Leistung erbracht hat, der man auf jeden Fall
> Respekt zollen muss. Mit solchen Menschen führen wir gerne den Dialog - auch
> darüber, welche Formen von Zusammenarbeit möglich und sinnvoll sind. Bei all
> dem wird aber der Brockhaus der Brockhaus bleiben.

In 200 Jahren hat sich viel getan und ich glaube nicht, daß die nächsten 
200 Jahre weniger langsam verlaufen werden. Auch müsste man mal schauen, 
seit wann eigentlich Brockhaus das Brockhaus das ist, was es denn nun 
bleiben soll. Der F.A.Brockhaus von 1942, der von 1945, der von 1984 
oder wirklich der 1805er Verlag eines Mannes, der zu Lebzeiten nicht 
gerade ein funkelnder Stern am Liquiditätshimmel war (Schopenhauer hat 
da heftig um sich geschlagen..)

Einen schönen Abend,
Mathias