[Wikide-l] Die Leiden der jungen Schweizerin

Reinhard Kraasch wiki at kraasch.net
Fr Nov 27 22:45:36 UTC 2009


Bjoern Hoehrmann schrieb:
> * Reinhard Kraasch wrote:
>   
>> Insofern: Wikipedia einladender und benutzerfreundlicher zu machen, da 
>> bin ich im Prinzip dabei, faktisch sehe aber große Probleme, sowohl bei 
>> der Mentalität der "Insassen" als auch bei den Erwartungen der 
>> Aussenstehenden - die sich über weite Teile eben nicht mit den 
>> Projektzielen von Wikipedia decken. Die meisten Neulinge wollen gar 
>> nicht "an einer Enzyklopädie mitarbeiten", sondern wollen sich selber, 
>> ihre Firma, ihren Insektenzüchterverein darstellen - "Enzyklopädie" 
>> kommt in dieser Gedankenwelt gar nicht vor.
>>     
>
> Dass Artikel nur von weitgehend unabhängigen eingestellt und bearbeitet
> werden sollten war auch mein Eindruck, bis ich mich die letzten Wochen
> näher eingearbeitet habe. Wirklich stehen tut das aber scheinbar nicht
> im "Metabereich", vor allem habe ich auch keine Erklärung warum es die
> Regel gibt gefunden (ohne jetzt erneut gezielt gesucht zu haben), und
> eher das Gegenteil scheint mir das Fall zu sein.
>
> Immerhin scheinen prominente "Wikipedianer" Seminare anzubieten, wie man
> den eigenen Verein gut in der Wikipedia darstellt. Wenn ich mich recht
> erinnere, traf ich auch über das Mentorenprogramm auf einen Benutzer der
> in der Pressestelle eines Mobilfunkanbieters arbeitet, und gerne Artikel
> im Bereich Mobilfunk überarbeiten möchte. Insofern kommt es mir komisch
> vor, dass jetzt als Problem herauszustellen.
>
> Wenn es einen Konsens darüber gibt, dass neue Artikel von "befangenen"
> Autoren aus psychologischen und qualitativen Gründen Tabu sind, sollte
> es nicht weiter schwierig sein, Neuautoren mit Darstellung von Gründen
> in der Erstellungsmaske und anderswo davon zu überzeugen, von ihrem
> Vorhaben, so unschön die Demotivation auch sein mag, Abstand zu nehmen,
> beziehungsweise das an konkret benannten anderen Orten zu realisieren.
>
> (Unabhängig davon spricht für das Mentorenprogramm ja nichts dagegen,
> auch solche "Selbstdarsteller" zu betreuen, ihnen müsste dann nur klar
> gesagt werden, dass ihre Inhalte im VereinsWiki oder wo auch immer
> besser aufgehoben sind, und sie vor allem Hilfestellung in Sachen For-
> matierung und Quellenarbeit kriegen.)
>   
ich finde, man kann auch als Nicht-Unabhängiger gute Artikel erstellen 
(letztendlich wird jeder Autor ein mehr oder minder positives Verhältnis 
zum Artikelgegenstand haben, sonst würde er den Artikel ja nicht 
schreiben wollen), für meinen Geschmack fehlt es aber vielen Neuautoren 
ebenso an Einfühlungsvermögen wie den "Platzhirschen". Die Kernfrage ist 
halt, für wen man schreibt: Für sich, für sein Unternehmen, für den Chef 
... oder für Wikipedia bzw. für die Leser der Wikipedia? Genau das macht 
den Unterschied.

Wenn Wikipedia nur als Ablagehalde für Eigenwerbung gesehen wird - und 
man sich nicht einmal 5 Minuten mit den Projektzielen beschäftigen mag 
(die sind ja im Grunde einfach: "Würden Sie erwarten, einen derartigen 
Artikel im Brockhaus vorzufinden"), dann finde ich, wird man zu Recht 
weggebissen. Was in der Praxis ja gar nicht so oft geschieht...
Der Normalfall - so wie ich ihn wahrnehme - sieht eher so aus:

1. Neuautor kopiert die Firmenwebseite (wahlweise: den Lebenslauf von 
der Uni-Seite, die Produktvorstellung aus dem Web-Shop, die 
Band-Geschichte...) in einen Wikipedia-Artikel
2. Die Eingangskontrolle entdeckt den Artikel, stellt fest, dass er 
wikifiziert usw. werden muss - er bekommt das (für den Neuautor 
unverständliche) Bapperl "Vollprogramm bitte"
3. Jemand anderes entdeckt, dass der Artikel eine 1:1-Kopie einer 
Webseite ist und setzt einen URV-Baustein rein (und listet den Artikel 
in 
http://de.wikipedia.org/wiki/Wikipedia:Löschkandidaten/Urheberrechtsverletzungen 
)
4. Der Neuautor schlägt irgendwann im OTRS auf und liefert eine Freigabe
5. Der OTRS-Mitarbeiter muss zwei bis drei Mal nachfragen, bis die ganze 
Lizenzarie verstanden wird und die Freigabe verwertbar ist
6. Wenn man Pech hat, wurde der Artikel zwischenzeitlich als URV 
gelöscht - dann muss der OTRS-Mitarbeiter dem Neuautor auch noch 
erklären, dass "gelöscht" nicht "gelöscht" heißt - und den Artikel 
wiederherstellen (lassen).
7. Der URV-Baustein wird vom OTRS-Mitarbeiter herausgenommen, der 
QS-Baustein wandert wieder herein: Thema "Vollprogramm" - was, wenn man 
es richtig betrachtet, auf Neuschreiben hinausläuft, da die 
Firmenwebseite viel zu einseitig formuliert ist
8. Optional: Jemand negiert die Relevanz der Firma / der Person / der 
Band und stellt einen Löschantrag usw. usw.
9. Wenn der Artikel drin bleibt, hört man nie wieder etwas von dem Autor 
(ggf. trägt er vielleicht mal aktualisierte Umsatzzahlen nach)
10. Wenn der Artikel nicht drin bleibt, muss man sich als "Löscho" oder 
ähnliches beschimpfen lassen (auch wenn man in der Löschdiskussion für 
"behalten" war...)

Letztendlich sind da drei, vier Wikipedianer bis in den Bereich von 
Stunden unentgeltlich beschäftigt (und das war jetzt nur die Variante 
ohne Mentorenprogramm) - und das nicht, weil etwas beschrieben werden 
soll, was die Leser interessiert, sondern, weil jemand sein Unternehmen 
(seinen Prof, sein Produkt, seine Band...) werblich platzieren will, 
etwas, wofür er anderswo echtes Geld hinblättern müsste. Mein Mitleid 
hält sich da jedenfalls in Grenzen - ich ärgere mich nur über den 
unnützen Aufwand, der im Vorfeld (gerade im OTRS, wo es keiner sieht) 
getrieben wird, wenn der Artikel am Ende dann doch gelöscht wird und bin 
von daher im Zweifelsfall eher für das Behalten...

Trotzdem glaube ich nicht, dass Wikipedia (will sagen: unseren Lesern) 
ein Schaden entsteht, wenn diese Art von Autoren wegbleibt (was man im 
übrigen nicht befürchten muss, mit steigender Bekanntheit wird Wikipedia 
immer mehr als Werbemedium wahrgenommen - der Strom an Praktikanten und 
Sekretärinnen, die gesagt bekommen: "Nun schreib doch mal einen Artikel 
über [...] in Wikipedia" wird so schnell nicht abreißen, wir sollten uns 
eher den Kopf zerbrechen, warum wir so vergleichsweise wenige dauerhafte 
und qualifizierte Autoren in den enzyklopädischen Kernbereichen haben).

Gruß
Reinhard