[Wikide-l] Die Leiden der jungen Schweizerin
Bjoern Hoehrmann
derhoermi at gmx.net
Do Nov 26 19:53:25 UTC 2009
Hallo.
Als ich vor rund sechs Jahren meine ersten Erfahrungen mit der Wiki-
pedia machte, hab ich das Konzept so verstanden, dass dort kollaborativ
ein universelles, freies, digitales Nachschlagewerk entstehen soll, in-
dem jeder ein bisschen beisteuert. Ich hab meinen Soll dort erfüllt und
über die Jahre immer mal wieder minimale Verbesserungen eingebracht und
Unsinnsänderungen entfernt, und mich nicht weiter interessiert dafür,
was sonst noch so hinter den Kulissen passiert.
Im Rahmen der "fefe-Krise von 2009" hab ich mich die letzten Wochen da
mal intensiver mit beschäftigt, vor allem mit dem Ziel einfachere und
konstruktivere Verbesserungsvorschläge zu machen und Missstände aus der
Perspektive eines eher Aussenstehenden in die Diskussion einzubringen.
Besonders interessiere ich mich da für die Kollaboration und natürlich
für die Löschpraxis. Das ist ein andauernder Prozess, aber ich möchte
doch ein Erlebnis mal gleich teilen.
Was im Rahmen der Löschpraxis der Öffentlichkeit weitgehend entzogen
bleibt sind die sogenannten "Schnelllöschungen". Da die Daten da nach
der Löschung der Allgemeinheit nicht mehr zur Verfügung stehen hab ich
mich mal direkt in den Neuartikelstrom eingeklinkt um da mal die Daten
von einem kurzen Zeitraum zu sammeln und auszuwerten. Ich hab dann heute
hin und wieder mal Stichproben gemacht und möchte von einem Fall be-
richten der mir inzwischen fast schon exemplarisch für das Interesse der
alteingesessenen "Wikipedianer" zu sein scheint.
Ich rate mir der Einfachheit halber im folgenden mal Nationalität, Ge-
schlecht und Alter des neuen Benutzers zusammen, und bitte das zu ent-
schuldigen.
Eine junge Schweizerin hat sich heute Abend einen Account und kurz da-
rauf ihren ersten Artikel angelegt. Der Artikel war zu einem Schweizer
Strassenmagazin, nach meiner Minimal-Recherche wohl dem grössten, und
das Magazin erfüllt augenscheinlich die für diesen Fall ausgearbeiteten
"Relevanzkriterien". Auf der Begriffserklärungsseite gibt es einen ent-
sprechenden "Rotlink" für das Magazin.
Das Magazin wird von Obdachlosen und wohl vor allem auch auf Bahnhöfen
vertrieben. Vor einem Jahr erfuhr das Magazin einiges an Medieninter-
resse, da die Schweizer Bundesbahnen die Genehmigung dazu an vielen
Orten nicht erneuern wollte und wohl auch nicht hat.
Der Artikel der jungen Schweizerin stellte diese Sachverhalte im We-
sentlichen so dar, sprachlich und grammatikalisch kaum zu beanstanden,
sachlich richtig, in vier Zeilen. Der Klammerteil des Lemmas entsprach
wohl nicht ganz stilistischen Gepflogenheiten, und ein "aber" im Text
war wohl auch nicht ideal. Sonst war da nichts zu bemängeln.
Wenn ich mir jetzt die "Kriterien für eine Schnelllöschung" angucke,
trifft auf den Artikel ganz sicher nicht zu, dass es sich dabei um
"Kein Artikel" handelt, es ist kein "Fake", nicht "Rechtswidrig", keine
"Offensichtliche Werbung", "Zweifelsfreie Irrelevanz" scheidet ebenso
aus, es handelt sich um keine Urheberrechtsverletzung, es gibt keine
Probleme im Bezug auf den "Jugendschutz", der Inhalt ist von keinem
anderen Artikel abgedeckt, es ist kein Wiedergänger, und so weiter.
Bestenfalls käme "Falscher Stub" in Frage. Hier verlinkt der Artikel
mit den Kriterien für eine Schnelllöschung auf "Wikipedia:Stub" was
nicht mehr existiert, und der Artikel "Wikipedia:Artikel" enthält den
verlinkten Abschnitt nicht mehr. Das scheint mir seit vier Jahren der
Fall zu sein. In jedem Fall ist für mich nicht ersichtlich was an dem
Artikel der jungen Schweizerin jetzt ein "Falscher Stub" hätte sein
sollen.
Beim falschen Stub sind dem Regelwerk nach in jedem Fall die Grund-
regeln für neue Artikel zu beachten, die da sagen "Gib einem neuen
Artikel wenigstens 15 Minuten Zeit", "Sprich mit dem Autor", und
"Überlege, ob du den Artikel verbessern kannst".
Der Artikel endete im übrigen in einer Extrazeile mit dem Text "Juhui,
mein erster Artikel!!!!". Nach Mitternacht sind die Lösch-Enthusiasten
wohl nicht mehr so aufmerksam, so dauerte es bald fünf Minuten bis der
Schnelllöschantrag eingebaut werden konnte. Der Antragsteller hat sich
den Artikel offenbar genau angesehen, und formulierte seine Begründung
aus mit: "Hoffentlich auch dein letzter".
Eine Minute später änderte sich die Begründung in "Vandale", wohl aus
einem Bearbeitungskonfligt heraus, und dann hatten geneigte Beobachter
mehrere Sekunden Zeit, Einspruch gegen den Antrag einzulegen bis dann
endlich vor Ablauf der Minute Sterbehilfe geleistet werden konnte, mit
der Begründung "Kein Artikel oder kein enzyklopädischer Inhalt".
Offenbar ist meine Einschätzung also falsch gewesen, es muss sich um
die "falsche Sprache", eine "Testseite", eine Baustelle ala "Hier
entsteht ein Artikel zum Thema xy", eine "sinnentstellte Maschinen-
übersetzung", eine Seite "die nur aus einem Weblink" besteht, eine
"Aneinanderreihung von Wörtern, die überhaupt keinen erkennbaren Sinn
ergeben", oder ein verworrenen Text den selbst ein kundiger Leser kaum
versteht -- gehandelt haben. So kann man sich irren!
Zwei Minuten weiter vermerkte die junge Schweizerin dann auf ihrer Be-
nutzerseite einen Hilferuf. Ich fass das nochmal kurz zusammen, Wiki-
pedia in drei kurzen Schritten, zum ausschneiden und an die Wand nageln.
(Alternativ nehme man wohl http://u.nu/838z3).
+-----------------------------------------------------+
| "Juhui, mein erster Artikel!!!!" |
+-----------------------------------------------------+
{{Schnelllöschen|Hoffentlich auch dein letzter.}}
+-----------------------------------------------------+
| "wo ist mein Artikel? ich finde ihn nicht mehr????" |
+-----------------------------------------------------+
In den folgenden Minuten fand die junge Autorin dann prima Angebote, den
Artikel gemeinsam auf Vordermann zu bringen; um mal aus dem Kontext
einige herauszugreifen "beachte die obigen Hinweise!", "signiere deine
Beiträge hier!". Da muss man schon die Rollen Mentor und Administrator
auf sich vereinen um solch schöne Zeilen hervorzubringen. Ob des lieben
Hinweises verstand die junge Dame das mit dem signieren nicht gleich;
wohl ein Schock für den Herren.
Der Herr "Hoffentlich auch dein letzter" half auch weiter. Mit der
Löschung hatte er natürlich nichts zu tun, aber zumindest auf ihre ein
wenig sagen wir gedämpft klingende Frage "und jetzt, das wars???" hatte
er prompt Antwort parat. Bei anderen Artikeln mal was abgucken und nach-
machen. "Und gib dir diesmal Mühe". Quittiert wurde ihre Mühe am Ende
ihrer Diskussionsseite dann mit "bei aller Liebe: so nicht. Ich habe
den Text jetzt zweimal schnelllgelöscht. Bitte nicht nochmal". Von ei-
nem weiteren Administrator und Mentor in Personalunion, wohlgemerkt.
Wie gesagt sind die späteren Zitate entstellt, dass es da auch ein
"Hallo" und "Bitte" und einen Hinweis auf das Mentorenprogramm gegeben
hat wird sie, ohne ein kleines Wunder, aber kaum wahrnehmen wenn sie
sich in der früh nochmal anguckt, was sie das jetzt alles angerichtet
hat. Und das für einen Artikel den ich auch so eingestellt hätte, wäre
ich nicht jemand der lieber obszön lange Abhandlung über ein Thema wie
eben diese Mail schreiben würde.
Zum Herrn "Hoffentlich auch dein letzter" erübrigt sich eigentlich jede
weitere Bemerkung. Wenn man auf "und jetzt, das wars???" auch noch nach-
treten muss, statt dass das da mal sowas wie eine Gefühlsregung einsetzt
braucht man sich eigentlich gar nicht mehr das Benutzerlogbuch des Pseu-
donyms angucken, natürlich folgt da ein Ausfall auf den nächsten Regel-
verstoss, inklusive dazugehörigen Lobesbapperln auf der Benutzerseite.
Vom ersten bis zum letzten Satz dauerte diese Episode eine halbe Stunde.
Was ich davon eigentlich nur mitnehmen kann ist jedem geneigten zu raten
sich die seelischen Grausamkeiten zu ersparen, die mit einer Beteiligung
am Projekt Wikipedia offenbar einhergehen. Für mich selbst und nur als
Beobachter dieser Episode ist es inzwischen arg schwer überhaupt auf die
Seiten der deutschsprachigen Wikipedia zu gehen, ohne dass sich mir der
Magen umdreht.
Mein Respekt gilt der jungen Dame, die ihre erste halbe Stunde Wikipe-
dia mit weit mehr Fassung ertrug, als es mir aus der Ferne möglich war.
--
Björn Höhrmann · mailto:bjoern at hoehrmann.de · http://bjoern.hoehrmann.de
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