[Wikide-l] Noch ein Vorläufer der Wikipedia

Erik Moeller erik at wikimedia.org
Di Dez 12 15:29:45 UTC 2006


On 12/12/06, Ivo Köthnig <koethnig at web.de> wrote:
> Man redet hier echt gegen Wände. Es geht beim Schreiben einer
> Enzyklopädie nicht darum das Bedürfnis eines jeden zu befriedigen
> etwas über irgendjemanden in Erfahrung zu bringen, sondern das
> Bedürfnis einer gewissen Zielgruppe (die ich bei den besser
> gebildeten [in dieser Funktion!!!]) nach wichtigen, relevanten
> Informationen zu befriedigen. Was sind wichtige und relevante
> Informationen? Solche die einem Helfen (wichtige) Entscheidungen zu
> treffen. Solche die einem Helfen Forschung zu betreiben z.B.

Ich interessiere mich sehr für Videospielkultur. Da ich häufig auf
Veranstaltungen und Workshops von und mit Pädagogen eingeladen werde,
ist es mir wichtig, eine gute Einschätzung zur aktuellen virtuellen
Lebenswelt von Kindern und Jugendlichen abgeben zu können. Da ich
selbst keine Zeit zum Spielen habe, finde ich die in der
englischsprachigen Wikipedia enthaltenen detaillierten Ausführungen
über diverse Spielwelten extrem hilfreich. Damit hat die Enzyklopädie
für mich bei diesen Recherchen ihren Zweck erfüllt.

Ich finde diese ständigen Versuche, "Relevanz" für Dritte zu
definieren, höchst unerfreulich. Selbst in der wesentlich
aufnahmefreudigeren englischsprachigen Wikipedia kommt es in letzter
Zeit immer häufiger vor, dass ich einen Begriff nachschlage, und statt
Informationen nur "x gelöschte Revisionen" finde. Das alleroberste
Kriterium sollte sein, ob es für die Information nachvollziehbare
Quellen gibt, neben der Primärquelle. Das reicht fast schon allein als
Relevanzkriterium aus.

Mal abgesehen davon, dass es nicht an uns ist, die Nutzung von
Wikipedia mit dem Ziel der letztendlichen Triebbefriedigung als
"illegitim" zu bezeichnen (genauso wenig wie es etwa eine illegitime
Nutzung darstellt, über Videospiele zu lesen um sie dann zu kaufen --
halt eine andere Triebbefriedigung), gibt es selbstverständlich
zahlreiche Nutzungsarten, die darüber hinaus gehen. Gerade bei Pornos
gibt es viele vergleichende inhaltliche Untersuchungen; diejenigen
davon, die das Geschehen moralisch verdammen, sind nicht selten am
detailliertesten in ihren inhaltlichen Ausführungen. Warum sollte
Wikipedia solche Forschungsarbeiten nicht mit guten Zusammenfassungen
und Bios unterstützen?

Das Argument, dass zu viele Informationen schädlich sind, halte ich
für sehr schwach. Vielmehr geht es doch darum, die vorhandenen Infos
sinnvoll zu strukturieren, also bspw. einzelne Abschnitte zusammen zu
fassen und so dem Leser eine Art "Zoom" auf das Thema zu gestatten,
das ihn oder sie interessiert. Solange dabei die Überprüfbarkeit
gewahrt bleibt (meinetwegen mit Referenzen auf die Primärquelle) sehe
ich auch mit detaillierten Zusammenfassungen kein Problem.

Du schreibst, es wäre eine große Herausforderung Relevanz zu
definieren, aber trotzdem und gerade deshalb wichtig. Ich behaupte,
dass diese Versuche, nach eigenem Gutdünken unerwünschte Inhalte
auszumisten, vielmehr die einfache Lösung sind. Schwieriger ist es,
komplexe Themen mit vielen Detailinformationen sinnvoll und nutzbar zu
_strukturieren_.

Es gibt zwei mögliche Perspektiven darauf, wie sich Wikipedia zur
klassischen Enzyklopädie verhält. Entweder, wir versuchen mit Gewalt
einen klassischen Enzyklopädiebegriff einem Projekt überzustülpen, das
sich an jeder Stelle dagegen wehrt, oder wir realisieren, dass
Wikipedia bereits jetzt einen gesellschaftichen Status erreicht hat,
den Enzyklopädiebegriff implizit neu zu definieren.

Wenn bei uns Sportergebnisse Sekunden nach Bekanntwerden eingetragen
werden; wenn Freiwillige aus der ganzen Welt mit Kameras umherwandern,
um schöne Fotos zu machen; wenn Teenager Geschichtsbücher wälzen und
zusammen fassen, dann hat das mit traditioneller Enzyklopädie
überhaupt nix zu tun. Und das muss es auch gar nicht. Es ist nämlich
um einiges besser.
-- 
Peace & Love,
Erik

DISCLAIMER: This message does not represent an official position of
the Wikimedia Foundation or its Board of Trustees.