[Wikide-l] Wikipedia, Brockhaus & Co.

Benedikt Zäch benedikt.zaech at gmx.net
Fr Jan 14 23:28:55 UTC 2005


Ulrich Fuchs schrieb am 14. Jan. 2005 um 22:13:

> Heute kann man wohl davon ausgehen, dass Wikipedia und Brockhaus zwei 
> relativunterschiedliche Märkte beackern, weil Wikipedia die 
> Anforderungen an Prägnanz, Genauigkeit und Wissenschaftlichkeit 
> täglich weiter absenkt. 

Ein Fuchs'sche Unkenruf, zum wiederholten Mal. Er ist nicht falsch, 
kapituliert aber vor der Kleinarbeit des Lekorats und unterschätzt, dass 
es viele sind, sich genau daran stören und dagegen tätig sind.

> Aber dieser Segen der Wikipedia ist gleichzeitig
> ihr Fluch. Während Sie sich auf das allzu Wesentliche beschränken 
> müssen,
> ergeht sich Wikipedia im allzu Unwesentlichem - und ertrinkt in 
> spätestens
> ein paar Jahren in genau der Flut an wahrscheinlicher, aber eben nicht 
> immer
> richtiger Information, die schon das Internet als Recherche-Instrument 
> fast
> unbrauchbar macht.
>
Die Wikipedia ist auch hier ein "bottom-up"-Projekt, das ist eben so. 
Die klassische Enzyklopädie beginnt beim Grossen und hat für das Kleine 
nur noch beschränkt Platz und kein Verständnis für das "Nicht-Relevante" 
(das oft zum Abseitigen erklärt wird). Die Wikipedia machte es von 
vornherein umgekehrt. Wichtig ist letzlich nur, ob die Wikipedia nach 
einer gewissen Zeit (4 Jahre sind keine Zeit!) in der Lage ist, auch die 
grossen (die "wichtigen") Begriffsartikel breit abzudecken.

> Dem großen Brockhaus wird die Wikipedia also wohl nie auch nur 
> ansatzweise
> Konkurrenz machen können - denn sie hat diesen Anspruch nicht mehr 
> (und hatte
> ihn natürlich nie, was das Ledereinband-Kauf-und-Schenkargument 
> angeht). Vor
> einem Jahr hätte ich aber bezüglich der inhaltlichen Qualität an 
> Ihrer Stelle
> weitaus mehr gezittert. Heute würde ich mich gemütlich zurücklehnen 
> und bei
> der zunehmenden Vermüllung der Wikipedia zuschauen. Diese Vermüllung 
> hält die
> Wikipedia notabene von einem zweiten Geschäftsfeld fern, das 
> Brockhaus so
> rührig beackert: Das Neukompilieren von vorhandenem Textmaterial zu 
> diversen
> Speziallexika. Stellen Sie sich mal vor, wenn diese Bausteine in einem 
> sauber
> organisierten Wiki lägen. Da die Wikipedia-Community aber nicht in 
> der Lage
> ist, ihren eigenen Stall sauber zu halten, verfügt sie über keine 
> solchen
> Bausteine (mehr), die in dieser Weise zusammenstellbar wären.
>

Das klingt mit doch sehr stark nach gründerzeitlicher Bitternis über den 
Verlust der reinen Lehre (die es, nota bene, nie gab).
Die Kompilierung und Kondensierung der Wikipedia zu handlicher Form hat 
doch, mit offenbar derselben Marketing-Idee (Synergie, Zweitverwertung, 
Teaser für das Gesamtwerk), bereits eingesetzt: Reader, CD, DVD etc.

Wikipedia muss sich eigentlich nicht an den grossen Enzyklopädien 
messen, obschon dies viele massgebende Wikipedianer merkwürdigerweise 
fast schon obsessiv tun. Sie hat eine andere Idee von "massgeblichem 
Wissen" und eine ganz andere Idee von der Organisation der Aufbereitung 
dieses Wissens.

Die grossen Tanker der Enzyklopädiewelt (die BE vielleicht einmal 
ausgenommen) haben sich ihren Ruf über viele Irrwege erworben: Schon 
vergessen, wie willfährig gerade Enzyklopädien in dikatorischen Systemen 
das "massgebende" Wissen und vor allem das "unmassgebende" Wissen in den 
jeweils erwünschten Kanon gegossen bzw. davon entfernt haben? Bei allen 
Trollen, Vandalen, Sektierern und anderem Gelichter, das sich tagtäglich 
in der Wikipedia tummelt: Diese Gefahr ist dort im ganzen gering, weil 
es immer eine Korrektur gibt. Und man muss damit nicht bis nur nächsten 
Auflage warten; die Peinlichkeit hat ein kurzes Alter.

An der Qualität ist ohnehin stete Arbeit nötig. Sage mir doch bitte 
keiner, die ersten Textfassungen auch von professionellsten 
Lexika-Artikel seien stets gut: wir sehen erst die 4. oder 6. Fassung im 
Druck, bei der Wikipedia dagegen immer auch die erste (und das Argument, 
dass in redigierten Lexika immer die letzten Fassungen die besten seien, 
ist die Wunschvorstellung der Redaktoren; die Realität sieht - vom 
ständigen Platzproblem, das viele Artikel verstümmelt, einmal abgesehen 
- oft anders aus).

Dass die Qualitätsverbesserung eben schwierigstes Kleinwerk ist, sollte 
nun wirklich keine Neuigkeit sein. Was sind denn eigentlich vier Jahre 
schon in Bezug auf solche Aufgaben? Bei einem lexikalischen 
Grossunternehmen recht das sonst eben für die Ausarbeitung der Kriterien 
und Regeln und einige Probeartikel...

Es grüsst

Lullus