[Wikide-l] Wikipedia vs. Enzyklopädie
Agon S. Buchholz
asb at kefk.net
Fr Jun 4 13:39:18 UTC 2004
Thomas R. Koll wrote:
>> Die Programmatik ist das Gerüst, an dem die Enzyklopädie errichtet
>> wird, das sie und ihre Bestandteile zusammenhält und ihr einen Sinn
>> gibt. Das Motiv für "Wissen für alle von allen" ist Sammeln um des
>> Sammelns Willen, nicht für einen übergeodneten Zweck wie
>> "Aufklärung".
> Eher und der "Erhaltung des Wissen" willen.
Auch das wäre Ein "Retro-Kriterium" aus dem vorletzten Jahrhundert.
Archive und Bibliotheken machen das besser, ausserdem fände ich den
Anspruch, Wissen in einer homogenisierten Form erhalten zu wollen recht
zweifelhaft. "Erhaltung des Wissens" könnte aber ein legitimes Ziel von
Wikipedia-Schwesterprojekten wie Wikisource sein.
Wichtiger: Das gegenwärtige Problem besteht nicht darin, Wissen zu
"erhalten", sondern aus der Flut auszuwählen (Stichwort
[[Informationsexplosion]] bzw. Wissensexplosion); die Wissenserzeugung
gipfelt momentan in einem Berg von ungeordnetem und nicht-gewichtetem
Wissen, weil aus dem "globalen Datenspeicher" (in Form von Publikationen
in jeglichern Form) nichts gelöscht wird. In eine Programmatik für die
Wikipedia übersetzt würde das mit Ulis exklusionistischem Standpunkt
zusammenfallen ("Wir wählen das Wissen aus, das sie wissen
{müssen|können|dürfen}"). Zumindest wäre das ein Ansatz für eine
Programmatik, die ist aber erstens nicht konsensfähig und zweitens etwas
ganz anderes, als es die Wikipedia mit ihrer Artikelmengenhatz derzeit
verfolgt.
Das kannst Du ebenso durchdeklinieren mit anderen Versprechungen wie
beispielsweise
* "Zugänglichmachung" ("Wir machen Wissen verfügbar für alle", hat die
bereits festgestellte Diskrepanz mit "alle"; die Gruppe jener "alle",
die ohnehin schon Zugang zu einer öffentlichen Bibliothek haben ist
größer als die mit Internet-Zugang);
* "Internationalisierung" ("Wir globalisieren Wissen", tatsächlich gibt
es kein wirklich internaionales, mehrsprachiges Lexikon; da die
verschiedenen Sprachverseionen der Wikipedia aber kaum synchronisiert
sind, wäre das auch ein ungünstiges Kriterium),
* "Deökonomisierung" ("Wir machen den Zugang zu Wissen erschwinglich",
es macht aber auch wenig Sinn, sich zum Aldi des Wissensmarktes
aufzuschwingen, zumal man eine gebrauchte Encarta vom Vorjahr für ein
paar Euro bekommt)
* "Demokratisierung" ("Wir demokratisieren Wissen", das trifft
vielleicht am ehesten den Punkt, mit allen (unbeabsichtigten)
Konsequenzen wie vox populi, vox bovi).
Faktisch wird die Wikipedia zusammengehalten durch zwei explizite und
ein implizites Kriterium, das ist (1) der NPOV und (bereits massiv
abgeschwächt) (2) das halbherzige Bekenntnis zu freiem Wissen im Sinne
der GNU FDL (wobei das in Wikipedias Vorzeige-Teilprojekt, der
englischen Wikipedia, dank "fair use" für Bilder effektiv bestenfalls
für Texte gilt) sowie (3) das implizite Kriterium der Demokratisierung
der Wissensproduktion und -nutzung.
ad 1: NPOV taugt als konstitutives Kriterium für eine Enzyklopädie
nichts (jedes zeitgenössische Lexikon und jedes Wörterbuch wird
versuchen, einen neutralen Standpunkt zu beanspruchen; die Enzyklopädie
ist ja gerade durch eine Ideologie gekennzeichnet).
ad 2: Wäre die Wikipedia konsequent nach Stallmans
"Free-as-in-freedom"-Kriterien konstruiert, wäre das die Ideologie; da
Stallmans Ideen, insbesondere in Bezug auf den offensiven Umgang mit
nicht-verfügbarem Bildmaterial ("hier kann kein Bild wiedergegeben
werden weil Corbis auf den Bildrechten sitzt..."), abgelehnt wurden,
taugt das halbherzige Bekenntnis zu "ein bisschen Freiheit, aber..."
nichts. Mit einem solchen Kriterium bei der etablierten Handhabung
hätten wir von Anfang an verloren.
ad 3: Es verbleibt das Kriterium der Demokratisierung. Konstruieren wir
die Wikipedia also als mal als "Enzyklopädie, die den Prozess der
Wissensschaffung, -aggregation, -selektion und -distribution
demoktratisiert"; demokratisieren definieren wir mal als "Partizipation
einer autopoietisch konstituierten Gruppe" (also Leute, die sich selbst
zusammenfinden und bestimmten Krierien genügen) und als Gegenpol zur
monopolisierten, autoritäten, industriellen (Wissens-) Produktion. Dann
kommen wir in Teufels Küche mit einem antidemokratischen Stammhalter
(Jimbo) und den fundamentalen Zweifeln an demokratischen Prozessen in
der Wikipedia; die Wikipedia verfügt m.E. bestenfalls über Fragmente
demokratischer Prozesse, dieses Kriterium ist also summa summarum
ebenfalls vollkommen untauglich.
Last but not least könnte man noch "Anarchisierung von Wissen" anführen.
Das möge mal jeder selbst in seinen programmatischen Konsequenzen für
eine Enzyklopädie durchspielen. Ich würde das für das valideste Krierium
halten, es stünde aber diametral einem exklusionistischen Standpunkt
entgegen, wäre radikal inklusionistisch und -- vor allem -- ist derzeit
nirgends kodifiziert und vermutlich auch alles andere als konsensfähig.
> Mir kommt's so vor als streiten wir uns in dieser Diskussion um die
> Definition von Lexikon und Enzyklpädie, wie wäre es wenn wir uns
> stattdessen auf den Oberbegriff "Wissensquelle" einigen könnten?
Das sich die Wikipedia überall annonciert als Enzyklopädie würde das das
Problem nicht lösen. Drei Möglichkeiten gibt es:
(1) Definition von Enzyklopädie verändern und Differenzen zu Wörterbuch
und Lexikon verschleifen;
(2) Programmatik im Sinne einer klassischen Enzyklopädie entwickeln und
kodifizieren;
(3) Diskrepanzen ignorieren, weitermachen wie bisher und sich irgendwann
ganz fürchterlich ungerecht behandelt fühlen, wenn irgendjemand man
öffentlich feststellt, dass "Wikipedia" und "Enzyklopädie" nichts
miteinander zu tun haben.
MfG -asb