[Wikide-l] Die Leiden der jungen Schweizerin

Rainer Zenz rainerzenz at web.de
Sa Nov 28 13:57:11 UTC 2009


Am 27.11.2009 um 23:45 schrieb Reinhard Kraasch:

> Der Normalfall - so wie ich ihn wahrnehme - sieht eher so aus:

[...]

> Trotzdem glaube ich nicht, dass Wikipedia (will sagen: unseren Lesern)
> ein Schaden entsteht, wenn diese Art von Autoren wegbleibt (was man im
> übrigen nicht befürchten muss, mit steigender Bekanntheit wird  
> Wikipedia
> immer mehr als Werbemedium wahrgenommen - der Strom an Praktikanten  
> und
> Sekretärinnen, die gesagt bekommen: "Nun schreib doch mal einen  
> Artikel
> über [...] in Wikipedia" wird so schnell nicht abreißen, wir  
> sollten uns
> eher den Kopf zerbrechen, warum wir so vergleichsweise wenige  
> dauerhafte
> und qualifizierte Autoren in den enzyklopädischen Kernbereichen  
> haben).

Auch in solchen Fällen könnte man anders vorgehen. Gibt es z. B.  
klare Tutorials für das Schreiben von Unternehmensartikeln oder  
Artikeln zu Musikgruppen? Da kann man doch sehr konkret Schritt für  
Schritt beschreiben, was zu tun und was zu unterlassen ist, was  
hineinmuss und was nicht. Dazu zwei Musterartikel Falsch/Richtig.  
Darauf kann man die Leute als ersten Schritt hinweisen und dem  
Artikel ein passendes Bapperl verpassen. Macht wenig Arbeit und gibt  
den Leuten die Chance zur Überarbeitung und zum Verständnis der  
grundlegenden Wikipedia-Ziele. Alles als freundliche Hilfestellung,  
nicht als garstige Abwehrreaktion und Überforderung. Wenn dann keine  
positive Reaktion und Verbesserung kommt bleiben immer noch die  
üblichen Instrumente.

Man könnte solche speziellen Tutorials für alle typischen  
Problemfälle anlegen und routinemäßig als ersten Schritt einsetzen.  
Niemand, auch keine beauftragte Sekretärin und kein Musikfan, möchte  
beim ersten Versuch der Mitarbeit abgebügelt und mit Vorschriften  
erschlagen werden. Wer als erstes so behandelt wird, hat auf Dauer  
ein negatives Bild von der Wikipedia. Solchen Imageschaden können wir  
nicht wollen.

Dauerhafte und qualifizierte Autoren wachsen nicht auf Bäumen. Sie  
müssen herangebildet oder angelockt werden. Sie werden heute aber  
genauso abgeschreckt wie besagte Sekretärin, vielleicht auf andere  
Weise. Gestiegene Qualitätsansprüche hin oder her, es möge sich jeder  
an seine eigenen Wikipedia-Anfänge erinnern. Und es sind nicht nur  
die Ansprüche gestiegen, es hat sich auch der schon immer  
gewöhnungsbedürftige Umgangston verschärft, der Metabereich wurde  
immer undurchschaubarer.

Das Projekt lebte (und tut es immer noch) vom Enthusiasmus, mit den  
eigenen bescheidenen Mitteln am Aufbau einer großen Sache mitwirken  
zu können. Das war vor nicht allzu langer Zeit neu und einmalig. Wer  
heute dazukommt, spürt und sieht diesen Enthusiasmus aber nicht mehr,  
wenn er ihn naiverweise mitbringt, wird er ihm in kürzester Zeit  
abgewöhnt. Ich fürchte, auf Neueinsteiger wirkt die Wikipedia oft wie  
eine Mischung aus kafkaesker Riesenbehörde und vorzeitlicher  
Stammesgesellschaft.

Dazu hat sich die Lage für Neueinsteiger auch durch den schlichten  
Umfang der Wikipedia völlig geändert. Das Erfolgserlebnis, eine Lücke  
durch einen eigenen Artikel füllen zu können, gibt es nur noch in  
eher exotischen Bereichen. Einen bestehenden Artikel umzuschreiben,  
muss man sich erst mal trauen, das Risiko dabei in ein Wespennest zu  
stechen ist nicht gering.

Wenn wir wollen, dass ungeschickte Anfänger wie auch qualifizierte  
Autoren ermutigt werden und sich einarbeiten können, muss sch bei uns  
kulturell und strukturell eine Menge ändern. Wir müssen die Leute  
wirklich einladen, nicht nur scheinbar, um sie dann hochkant  
rauszuwerfen. Wir müssen gute Lernangebote und  
Entfaltungsmöglichkeiten für Neulinge schaffen. Wir müssen den ganzen  
Laden transparenter machen, den ganzen Metabereich straffen und  
ordnen. Wir müssen dringend am Betriebsklima arbeiten. Die Wikipedia  
ist groß geworden, weil es Spaß gemacht hat und befriedigend war,  
freiwillig an einem wunderschönen Projekt und Experiment  
teilzunehmen. Davon ist - bei aller mittlerweile entstandenen  
Verantwortung - heute viel zu wenig zu spüren. Das macht uns garstig  
und schreckt Neulinge, Dilettanten wie Fachleute ab.

Gruß, Rainer