[Wikide-l] Der Standard meldet, daß Brockhaus aufgegeben hat.

Markus Mueller markus at flauta.de
Do Sep 13 14:02:58 UTC 2007


Am Mittwoch, 12. September 2007 19:49 schrieb Ralf Roletschek:
[...]
>  Unsere Redaktion prüft nach und nach Ihre Eingaben und
> Ergänzungen und gibt diese dann in einer geprüften Artikelversion
> frei. So entsteht ein großes geprüftes und freies Internetlexikon!

Ich habe immer gesagt, dass genau dies eines Tages kommen würde. Und ich habe 
keine Zweifel daran, dass die Bedrohung, die von diesem Projekt ausgeht, 
intern *maßlos* unterschätzt wird. Denn die Gruppe der von uns bisher meist 
recht unsanft behandelten sagenumwobenen "Fachleute" wird sich in Zukunft mit 
Sicherheit eher von der etablierten Marke und dem Redaktionsteam der 
renommierten Lexikonredaktion angezogen fühlen, als von 
diesem "Wir-sind-von-Geburt-her-alle-gleich-kompetent"-Chaos bei Wikipedia 
oder Wikiweise. Dieser lebendigen Verwirklichung von Descartes' - übrigens 
bitterbösen - Feststellung, dass "nichts auf der Welt so gerecht verteilt 
[ist] wie der Verstand. Denn jedermann ist überzeugt, daß er genug davon 
habe."

Insbesondere deswegen wird die Gefahr unterschätzt, da die magischen 
Wiki-Selbstreinigungs- und Selbstheilungskräfte der Community, die es 
vielleicht in den ersten Jahren gegeben haben mag (was ich allerdings als 
Legendenbildung betrachte), längst schon zerstört sind (aktuelles Beispiel 
gerade wieder bei den Meinungsbildern zu sehen).

Die Zeit, dass man sich hätte sinnvoll auf diesen Tag vorbereiten können 
(Aufbau einer hierarchischen Redaktionsstruktur mit klaren 
Kompetenzzuweisungen, strukturierter Qualitätssicherung und fester Aufteilung 
der Prüfung von Artikelneuanlagen), ist nun abgelaufen. Brockhaus hat 
möglicherweise den ersten Schritt getan, Wikipedia obsolet werden zu lassen, 
so wie die Nupedia einst obsolet wurde. 

Ich bezweifle, dass aus "Wikipedia-Netscape" eines Tages 
nochmal "Wikipedia-Firefox" werden könnte - dafür ist der größere Teil der 
hiesigen Nutzerschar viel zu konservativ, ideologisch verbohrt, unrealistisch 
und anti-pragmatisch eingestellt; und jene, die genau das nicht sind, könnten 
bei Brockhaus eine interessante - wenn jene klug sind, auch eine berufliche - 
Perspektive finden. Denn wer weiß, vielleicht brauchen die ja bald ein Menge 
Online-Redakteure? Man stelle sich die Signalwirkung vor, sie würben einige 
unserer Top-Leistungsträger auf bezahlte Stellen ab. 

Es wird aber interessant sein, den Lernprozess der Community in den nächsten 
Jahren zu beobachten: Zuerst werden sie das Brockhaus-Projekts ignorieren; 
dann werden sie es verlachen; dann bekämpfen sie es; und zum Schluss gewinnt 
es. 

Schöne Grüße,

Markus Mueller.