[Wikide-l] Wir wir selbst das Wikiprinzip verraten haben
Markus Mueller
markus at flauta.de
Mi Jan 18 08:36:17 UTC 2006
Zur Zeit findet ein heftiger Angriff auf die Grundlagen der Wikipedia statt.
"Wikiprinzip: nein danke" - das ist das, was inzwischen breiter Konsens in
der Community ist. Damit sind beide Grundprinzipien - sowohl Wikiprinzip als
auch Enzyklopädieprinzip - unter heftigem Beschuß.
Ausgerechnet mit dem Hinweis auf das „Wiki-Prinzip“, das doch „schnelle
Veränderung“ bedeutet, wird immer öfter das Festzurren eines bestehenden
Zustands gerechtfertigt. Es scheint so, als solle diese „schnelle
Veränderung“ offenbar nur für die Inhalte der Artikel gelten. Die Strukturen
darum herum, die diese Artikelinhalte erst ermöglichen, sollen möglichst
allesamt komplett und für immer „gesperrt“ werden.
Es ist von besonderer Ironie, dass gerade auch viele fundamentalistische
Wikiprinzipler auf gar keinen Fall Veränderungen zulassen wollen, wenn sie
sich auf die Wikipedia als System beziehen. Dabei müßte insbesondere auch
hier das Wikiprinzip gelten: alles müsste schnell, sehr schnell, änder- und
ergänzbar sein, wenn man einen Fehler, ein Problem oder eine Unzulänglichkeit
findet. Das wäre im Sinne des Wikiprinzips.
Da ist es ganz besonders erschreckend, dass oftmals nicht einmal mehr
befristete Experimente zugelassen werden. Wenn es immer schwieriger wird,
zeitlich begrenzt etwas ausprobiert, nur um herauszufinden, ob es sich
bewährt oder nicht, kann es einfach keine positiven Veränderungen, keine
Fortschritt mehr geben.
Wenn also das Wikiprinzip - wie im Moment - verraten wird, indem es auf die
Strukturen der Wikipedia nicht mehr anzuwenden ist, dann beschädigt die
Wikipedia ihre eigene ideelle Grundlage „Wikiprinzip“ viel mehr, als wenn
z.B. das Wikiprinzip für die Artikelinhalte nicht mehr zu 100% gelten würde.
Die Destruktion des Wikiprinzips im Grossen, diese Tendenz zum eingefrorenen
Stillstand, wird irgendwann zwangsläufig auch sehr negative Effekte auf das
Wikiprinzip im Kleinen nach sich ziehen.
Den Herausforderungen der Zukunft, in der mit erheblichen (z.B. juristischen
oder ökonomisch motivierten) Angriffen von Außen zu rechnen ist, wird sich
die Wikipedia nicht stellen können, weil sie ihre Anpassungsfähigkeit
verloren hat. Die Offenheit und Freiheit („open“ und „free“) der Wikipedia
hängt bestimmt nicht an so albernen Details, ob auch noch der allerletzte der
350.000 Artikel durch jede IP bearbeitbar ist oder nicht. Ihr Fortbestehen
hängt davon ab, ob wir wieder lernen können, im Geiste des Wikiprinzips zu
handeln, statt nach dessen Buchstaben.
Markus.