[Wikide-l] Lehren aus einem Rechtsstreit

Agon S. Buchholz asb at kefk.net
Di Feb 21 21:08:23 UTC 2006


Hallo Gemeinde,

nachdem der Rechtsstreit des Vereins im "Tron"-Fall bisher wohl recht
erfreulich verlaufen ist, möchte ich an dieser Stelle eine eigene
aktuelle Erfahrung ergänzen; wer den Fall früher mal auf Wikipedia-
Stammtischen oder bei ähnlichen Gelegenheiten verfolgt hat, kennt die
Hintergründe; daher hier nur eine knappe Zusammenfassung und die
richterlichen Feststellungen, die für Wikipedia relevant sein könnten;
eine rechtliche Beurteilung spare ich mir lieber, dafür bin ich als
Nichtjurist ohnehin nicht kompetent.

Teile aus der Entscheidungsbegründung des Gerichts könnten relevant sein
für den Verein, meine eigenen Fehler und irrigen Annahmen sind dagegen
eher als Warnung für Wikipedia-Autoren gemeint; aus meiner aktiven
Admin-Zeit weiß ich nur zu genau, dass sehr, sehr viele Wikipedianer
permanent ähnlich "fahrlässig" arbeiten, sei es aus Zeitmangel oder aus
Zu-gering-Schätzung des gerade editierten Textes, weil man ja nur mal
kurz eine "Kleinigkeit" ergänzen will (ein falsches Wort kostet mich
jetzt über tausend Euro - "Kleinigkeiten" gibt es also nicht!). Konkret
wird beispielsweise auch die Wertigkeit von rasch mit Google "geprüften"
Fakten absolut überbewertet, und viel zu oft wird auf das Prinzip
"jemand-anders-wird's-schon-ausbessern" vertraut. Ich bin noch immer von
Grundprinzip der kollektiven Texterstellung überzeugt, habe mittlerweile
massive Zweifel, wer das in der faktischen herrschenden Rechtsordnung
verantworten (also seinen Kopf dafür hinhalten) soll...


Anlaß meines Rechtsstreits war die Aktualisierung in einem über mehrere
Jahre gepflegten Erfahrungsbericht über einen Bremer Fotohändler auf
meiner privaten Homepage, der eine Zeitlang auch Filialen in Berlin
betrieben hatte. Die Berliner Filialen wurden vor einigen Jahren aus
unbekanntem Anlaß aufgegeben und zumindest zeitweilig von einer anderen
Fotohändlerkette übernommen. Um den Erfahrungsbericht zum Abschluß zu
bringen, gab ich eine Aussage über den Grund der Filialschließung
wieder, die mir im Nachfolgegeschäft mitgeteilt worden war; ich hatte
die Aussage zuvor - wie ich irrtümlich annahm - mit Hilfe von Google
verifiziert, jedoch natürlich keine seriöse Wirtschaftsrecherche
betrieben; mir erschien es ausreichend, einen "Gewährsmann" zu haben und
auch bei einer kurzen Web-Recherche auf keine anders lautende
Information gestoßen zu sein. Gegenstand des Artikels war ja für mich
ein langfristiger Erfahrungsbericht, der zu einem plausiblen Ende
geführt werden sollte, keine Wirtschaftsberichterstattung oder
wissenschaftliche Analyse über ein Unternehmen, mit dem ich
voraussichtlich nie wieder zu tun haben würde.

Die Auskunft des Nachfolgeunternehmens erwies sich als falsch, die
Kurzrecherche als unzureichend; das Bremer Unternehmen mahnte die
streitgegenständliche Aussage im Februar 2005 mit einem Streitwert von
einer Viertelmillion Euro <sic!> ab. Es schloß sich das mehr oder minder
übliche Procedere an (modifizierte Unterlassungserklärung,
Zahlungsaufforderung [mit plötzlich reduziertem Gegenstandswert von
50.000 Euro], Zurückweisen der Zahlungsaufforderung und schließlich
Zahlungsklage vor dem AG Bremen). Obwohl meine Website ziemlich
offensichtlich eine private Homepage und definitiv kein "Handelsblatt
Online" ist, wählte das Bremer Unternehmen den Weg der Abmahnung ohne
jegliche Vorwarnung oder Versuch der Kontaktaufnahme, zielte also von
Anfang an auf die maximal mögliche Konfrontation ab.

Im Streitverfahren ging es um die Erstattungsfähigkeit von Anwaltskosten
auf der Basis eines Gegenstandswertes von nunmehr 50.000 Euro; mit dem
Gericht wurde ein recht umfangreicher Schriftwechsel geführt, auf dessen
Basis das AG Bremen im September 2005 einen Vergleich vorschlug:
Reduzierung des Streitwerts auf 3.000 Euro (statt 50.000 Euro), Gebühr
1,0 (statt 1,2), gegenseitige Aufhebung der Kosten des Rechtsstreits;
das Bremer Unternehmen lehnte den Vergleich ab. Wir hatten zuvor anhand
von Logfiles und Zugriffsstatistiken beispielsweise belegen können, dass
die betreffende Aussage nur maximal drei Tage abrufbar gewesen war und
dass es auf die betreffende Seite innerhalb dieses Zeitraums nur eine
Handvoll Zugriffe gegeben hatte (genau genommen 2 am ersten Tag, 9 am
zweiten und 35 Zugriffe am dritten Tag, an dem auch die Abmahnung
verfasst wurde); für mich schien ziemlich klar, dass es sich um eine
absolute Bagatelle handelte, die von der Gegenseite aus anderen Motiven
aufgebauscht wurde.

Das Gericht setzte einen Verhandlungstermin an, der auf Betreiben der
Gegenseite verschoben wurde, und aus uns unbekannten Gründen wechselte
bei der Gelegenheit auch der Richter. In einer mündlichen Verhandlung im
Januar 2006 stellte die Gegenseite einen eigenen Vergleichsvorschlag
vor, der "hier und jetzt" geschlossen werden sollte, ohne einen
schriftlichen Text vor Augen zu haben (Prinzip der Mündlichkeit!); die
neue Richterin teilte die Auffassung ihres liberalen Vorgängers nicht
und schloß sich für uns vollkommen überraschend der Auffassung des
Bremer Unternehmers uneingeschränkt an.

Das Vergleichsangebot war aus verschiedenen Gründen unannehmbar und
erschien - zumindest mir - offensichtlich absurd; u.a. sollte ich 
jegliche Nennungen des Bremer Unternehmens in einem bestimmten Kontext 
aus sämtlichen Suchmaschinen der Welt <sic!> entfernen und mich bei 
einer Vertragsstrafe von 10.000 Euro "unter Verzicht auf die Berufung 
auf den Fortsetzungszusammenhang" verpflichten, dass beispielsweise nie
"Informationen/Daten" über das betreffende Unternehmen in die Wikipedia
<sic!> gelangen würden; der Text des Vergleichsangebots enthält noch
weitere ähnlich bizarre Verpflichtungen. Der Vergleichsvorschlag des
Unternehmens hatte übrigens inhaltlich nichts mehr mit der
streitgegenständlichen Aussage zu tun, sondern war als genereller
"Maulkorb" für mich mit praktisch unbegrenzter zeitlicher und
"räumlicher" Wirkung gedacht.

In der mündlichen Verhandlung, in der das überraschende
Vergleichsangebot unterbreitet wurde, versucht ich dem Gericht zu
erklären, dass es technisch nicht möglich sei, binnen zwei Wochen <sic!>
gezielt Informationen aus sämtlichen (!) Suchmaschinen, Caches und
Internet-Archiven der Welt entfernen lassen zu wollen und dass ich keine
Haftung übernehmen könne für Inhalte, die Dritte in die Wikipedia
einstellten. Das Gericht kommentierte dies nur mit: "Dann machen sie
doch da nicht mit" und gab der Klage im Urteil vom 16.2.2006 
vollumfänglich statt. In der besagten Verhandlung wurde ich auch darauf
hingewiesen, dass es vollkommen belanglos sei, ob ich einen Beitrag
selbst verfasst oder nur in einem Forum oder Wiki "zugelassen" hätte;
auch hier wurde wohl wieder die unsägliche Argumentation der
"Zueigenmachung durch Nichtverhindern" aufgegriffen.

Die Entscheidungsbegründung enthält einige - zumindest für mich -
bemerkenswerte Aussagen; die ersten sind zwar unschön, aber nicht 
überraschend:

* [Vollmacht] Unerheblich ist, ob der Abmahnung einer Vollmacht
beigefügt ist [hier existieren auch gegenläufige Einschätzungen anderer
Gerichte, die eine Abmahnung bei fehlender Vollmacht für ungültig
erklärt haben].
* [Sittenwidrigkeit] Die Abmahnung einer Privatperson [erkennbar aus
Impressum der Website] mit einem Gegenstandswert von 500.000 Euro ist
nicht sittenwidrig [kein Kommentar]
* [Gerichtsstand] Der Gerichtsstand ist dort, wo das Internet abgerufen
werden kann (nicht der Wohnsitz des Beklagten) [das ist ein bekanntes
Problem des Internetrechts, das aber wohl den aktuellen Stand der
Rechtsprechung widerspiegelt; ich verstehe das allerdings nicht; wenn
ich auf Mallorca eine FAZ aus dem "Internationale-Press"-Kiosk kaufe,
ist der Gerichtsstand ja auch nicht Mallorca, nur weil ich die Zeitung
dort kaufen konnte].

Interessanter für die Wikipedia sind dann die weiteren Aussagen:

* [potentieller Schaden] Es ist ohne Belang ob ein Schaden entstanden
ist; es reicht die Möglichkeit, dass ein Schaden hätte entstehen können
<sic!>; daher ist auch unerheblich, ob die Aussage im Internet
tatsächlich gelesen wurde; entscheidend ist vielmehr die Möglichkeit,
dass sie hätte gelesen werden können <sic!> [kann ich nicht
nachvollziehen; jeder PKW kann "potentiell Schaden" verursachen,
trotzdem wird niemand angezeigt, nur weil er einen PKW fährt].
* [Kommerzielle/nichtkommerzielle Motivation] Unerheblich ist, ob eine
Website "aus Liebhaberei" oder "aus wirtschaftlichen Interessen"
betrieben wird [für mich ebenfalls nicht nachvollziehbar; demnach würde
an ein gemeinnütziges Projekt von Freiwilligen dieselben Anforderungen
in Bezug auf kostenintensive Recherchen gestellt werden, wie sie bei
einem bezahlten Profi-Journalisten mit Reisebudget etc. üblich sind].
* [Kontext] Unerheblich ist auch der Kontext, in dem die Aussage
veröffentlicht wird [für mich überhaupt nicht nachvollziehbar; wenn ich
im Kochrezept einer Rezeptsammlung eine Zutat verwende, von der ein
Allergiker Pickel oder schlimmeres bekommen kann, ist das doch etwas
anderes, als wenn ich dasselbe Rezept auf einer Selbsthilfeseite für
eben jene Allergiker anpreisen würde; demnach würde es auch keinen 
Unterschied geben, ob ein Artikel über Adolf H. in einer Enzyklopädie 
oder einer rechtsextremen Hetzseite veröffentlicht wird].
* [Sorgfaltspflichten] Auch "von einem hobbymäßigen Betreiber einer
Internetseite" kann gefordert werden, eine Recherche nach
journalistischem Anspruch zu betreiben; im konkreten Fall reichte die
Auskunft eines Mitarbeiters aus einem Nachfolgeunternehmen
beispielsweise nicht aus [gängige journalistische Mindestanforderung
sind m.W. zwei unabhängige Quellen für problematische
Tatsachenbehauptungen; da natürlich in dem Urteil nicht spezifiziert
wird, welche Prüfungen für Website-Betreiber ausreichend wären, würe 
eine solche Rechtsauffassung das faktische K.O. für Blogs und Foren 
bedeuten, wo häufig über Gerüchte diskutiert wird; natürlich hat auch 
niemand von uns hat beispielsweise die Möglichkeit, zur Untermauerung 
der Faktenaussagen eines Artikels die Profirechercheure des 
Spiegel-Archivs anzusetzen, diese undifferenzierte Auffassung würde also 
auch ein gravierendes Problem für andere Formen des Bürgerjournalismus 
darstellen].

Ich habe als Nichtjurist keine ausreichend fundierte Vorstellung, ob
solche Aussagen repräsentativ sind für deutsche Gerichte, oder ob ich
einfach nur Pech mit der (zweiten) Richterin hatte; ich kann auch nicht
beurteilen, ob der Betreiber einer Website tatsächlich - wie hier
behauptet - uneingeschränkt haftbar ist für beliebige Inhalte, die über
seine Website abrufbar sind; beispielsweise dachte ich bisher, dass der
Betreiber für Inhalte von Foren erst nach Kenntnisnahme haftet, aber das
mag nicht mehr Stand der Rechtsprechung sein. Angesichts der
Urteilsbegründung habe ich aber mittlerweile massive Zweifel, ob man bei
solchen Rahmenbedingungen noch eine umfangreiche und relativ offene
Website betreiben kann, ohne sich existentiell zu gefährden.

In der Wikipedia war ich immer ein erklärter Gegner von
Zugriffsbeschränkungen und Restriktionen; ich halte es noch immer
prinzipiell für sinnvoll und wichtig, anonyme Edits zuzulassen, glaube
aber nach diesem Urteil, dass man wohl von niemandem erwarten kann, den
Preis für diese Freiheiten zu zahlen. Angesichts einer solchen
"Rechtsprechung" kann ich absolut nachvollziehen, wenn sich niemand die
anscheinend vollkommen unkalkulierbaren Risiken aus der Betreiberhaftung
ans Bein binden will. Ich muß daher meine Position grundsätzlich
revidieren und mich zumindest der Fraktion der Halbsperrungs-Befürworter
anschließen.

Bemerkenswert für mich persönlich und auch vollkommen überraschend war,
dass das Gericht meine "wirtschaftliche Situation" vollkommen ignoriert;
der volle Betrag "nebst Zinsen i.H.v. 5 Prozentpunkten über dem
Basiszinssatz seit dem 10.04.2005" ist sofort und vollständig zu
bezahlen - oder wird per Zwangsvollstreckung (!) eingetrieben. Um welche 
Summe es effektiv geht, weiß ich bisher nicht - im Urteil finden sich 
keine Angaben in "Cash" - der Betrag liegt aber irgendwo im unteren
vierstelligen Bereich; ich hatte die Verteidigung mit PkH führen müssen
(was auch geprüft und genehmigt worden ist) und daher damit gerechnet,
dass ich im schlimmsten Fall den Betrag in einigen Monatsraten
aufbringen müßte. Was ein Rechtsstreit mit vergleichbarem Verlauf für
Jimbo und die Foundation bedeuten könnte, möchte ich lieber nicht 
wissen. Wenn das "Recht" sein soll, müßte man möglicherweise
bereits bei einer durchschnittlichen Schadensersatzklage damit rechnen,
dass der Serverpark einfach weggepfändet wird - zumindest wenn es nicht
schnell genug gelingt, genug Spenden aufzubringen ("Das Urteil ist gegen 
Sicherheitsleistung in Höhe von 110% des zu vollstreckenden Betrages 
vorläufig vollstreckbar" - das heißt der Kläger kann den vollen Betrag 
sofort, also auch dann, wenn das Urteil noch nicht (!) rechtskräftig 
ist, vollstrecken lassen, wenn er die Sicherheitsleistung bezahlt).

Wie dem auch sei, für mich ist diese Erfahrung jedenfalls mehr als
ernüchternd, was deutsches Recht und deutsche Richter angeht. Ich möchte
daher mal meine Hochachtung für Kurt, Arne und den Rest des Vorstandes
von Wikimedia Deutschland aussprechen, die letztlich dann doch ihren
Kopf für den Rest der Community in diesem Land hinhalten müssen!

MfG -asb