[Wikide-l] RE: Qualitätsmerkmale des MSM
Ulrich Fuchs
mail at ulrich-fuchs.de
Fr Jan 14 21:13:14 UTC 2005
Hallo Herr Kreissig, hallo Liste,
die Wikipedia-Gemeinde ist eine große solche. Der Anteil derjenigen, die
Argumente (und ihrer zweiten mail kann man wohl durchaus bescheinigen, die
Situation bzgl. der Wikipedia zutreffend darzustellen) von Stimmungsmache
unterscheiden können, schrumpft allerdings rapide. Wobei aber auch der
erstgenannte Personenkreis genauso weiß wie Sie, dass der Geschäftsführer
eines Unternehmens auch immer der oberste Verkäufer ist, und weder aus einer
Laune heraus Interviews gibt noch nur mal ein Schwätzchen auf einer
Mailingliste halten will.
Insofern aber bitte dennoch "pöbel"-Kommentare hier auf der Liste nicht ernst
nehmen - oder sich besser darüber freuen: Sie stammen mal wieder von genau
den Leuten, die auch in der Wikipedia dafür sorgen, dass diese für den
Brockhaus wohl nie zur ernstzunehmenden Gefahr wird auflaufen können.
Heute kann man wohl davon ausgehen, dass Wikipedia und Brockhaus zwei relativ
unterschiedliche Märkte beackern, weil Wikipedia die Anforderungen an
Prägnanz, Genauigkeit und Wissenschaftlichkeit täglich weiter absenkt.
Überschneidungen gibt es dadurch allerdings deutlich im Bereich der
paarbändigen (Taschen)lexika, die sich viele Leute in den Schrank stellen, um
mal eben die Bedeutung eines Fremdworts nachzuschlagen, *ohne* sich für das
Thema wirklich tiefer zu interessieren. Hier werden Sie sich wohl doch etwas
wärmer anziehen müssen, denn diese Funktion erfüllt die Wikipedia bereits
heute, und das eben weitaus billiger und zielgruppengerechter, weil
ausführlicher, in ganzen Sätzen und mit Beispielen.
Wenn ich wissen will, was ein "Interview" ist, bin ich in der Wikipedia gut
bedient. Will ich wissen, wie ein Interview funktioniert, was zu beachten
ist, und zu welchem Zweck es im Journalismus eingesetzt wird, bin ich in der
Wikipedia vermutlich aufgeschmissen, weil sie mir da jede Menge belanglose
heiße Luft vorsetzt (gerade Probe auf's Exempel gemacht: stimmt.) - nun,
warten wir mal ab was Ihre neue große Auflage zum Thema zu sagen hat. Falls
da nur: "Interview: Befragung einer Person durch andere Person(en) zur
Erlangung von Aussagen" steht: Ich gestehe ihnen ein Platzmangel-Problem zu,
das die Wikipedia nicht hat. Aber dieser Segen der Wikipedia ist gleichzeitig
ihr Fluch. Während Sie sich auf das allzu Wesentliche beschränken müssen,
ergeht sich Wikipedia im allzu Unwesentlichem - und ertrinkt in spätestens
ein paar Jahren in genau der Flut an wahrscheinlicher, aber eben nicht immer
richtiger Information, die schon das Internet als Recherche-Instrument fast
unbrauchbar macht.
Dem großen Brockhaus wird die Wikipedia also wohl nie auch nur ansatzweise
Konkurrenz machen können - denn sie hat diesen Anspruch nicht mehr (und hatte
ihn natürlich nie, was das Ledereinband-Kauf-und-Schenkargument angeht). Vor
einem Jahr hätte ich aber bezüglich der inhaltlichen Qualität an Ihrer Stelle
weitaus mehr gezittert. Heute würde ich mich gemütlich zurücklehnen und bei
der zunehmenden Vermüllung der Wikipedia zuschauen. Diese Vermüllung hält die
Wikipedia notabene von einem zweiten Geschäftsfeld fern, das Brockhaus so
rührig beackert: Das Neukompilieren von vorhandenem Textmaterial zu diversen
Speziallexika. Stellen Sie sich mal vor, wenn diese Bausteine in einem sauber
organisierten Wiki lägen. Da die Wikipedia-Community aber nicht in der Lage
ist, ihren eigenen Stall sauber zu halten, verfügt sie über keine solchen
Bausteine (mehr), die in dieser Weise zusammenstellbar wären.
Was zu guter Letzt die journalistische Grabbeltischverdrehung angeht: Offenbar
ist man nicht nur vor Gericht und auf hoher See in Gottes Hand, sondern auch
vor Journalisten. Halten Sie das ggf. auch Herrn Wales' Äußerungen zu Gute.
Die genannten Dollarzahlen für das (nicht ganz so private, denn auch Bomis
ist eine Firma) Anfangsinvestment wurden meines Wissens jedenfalls letztes
Jahr noch mit einer Null weniger gehandelt.
mit freundlichen Grüßen
Ulrich Fuchs
(den brennend interessieren würde, was passierte, ließe man sämtiche
Brockhaus-Autoren und -Redakteure auf ein - ansonsten geschlossenes - Wiki
los)