[Wikide-l] Frage: Gibt es ein "Krise der Wikipedia" und sind die Probleme neu?

Agon S. Buchholz asb at kefk.net
Fr Dez 9 16:48:24 UTC 2005


Ulrich Fuchs wrote:

> Ich habe kein Problem damit, wenn Wikipedia bottom-up zum blanken 
> Wiki und zum Hort der freien Meinungsäußerung wird, nur soll man sie 
> dann halt nicht mehr Enzyklopädie nennen.

In dem Punkte sind wir uns ja fast einig; ich würde halt sagen, dass
Wikipedia stärker betonen müßte, dass sie das *Ziel* verfolgt, eine
Enzyklopädie für Endbenutzer zu erstellen, dass die aktuelle
Online-Fassung jedoch nur eine öffentlich einseh- und bearbeitbare
*Arbeitsversion* davon ist, die nur in Verbindung mit entsprechend
kritischer Medienkompetenz *wie* eine Enzyklopädie genutzt werden
sollte. Man müßte einfach deutlicher machen, dass diese Arbeitsversion
das ist, was im klassischen Arbeitsprozess eben noch nicht öffentlich
gemacht wird, was wir aber aus Gründen der Transparenz öffentlich machen
wollen.

Beispiel: Zweige der GNU/Linux-Distribution Debian (ein "Abgucken" bei
Debian habe ich in ähnlicher Form bereits vor Monaten vorgeschlagen).

Hier gibt es "Stable", das als Betriebssystem zur Verwendung von
Endbenutzern gedacht ist. Ein entsprechender Wikipedia-Zweig existiert
m.E. nicht und müßte abgespalten werden, beispielsweise als
stable.de.wikipedia.org; das müßte ganz klein anfangen
(ein paar Ideen zur praktischen Umsetzung dazu werden ja sporadisch alle
paar Monate andiskutiert; vor langer Zeit habe ich ja auch mal 
vorgeschlagen, pragmatisch eine Entsprechung zu Debian-"Testing" 
abzuspalten, um mit der Entwicklung einer stabilen Wikipedia-Version 
überhaupt mal zu beginnen; auf jeden Fall müßte man irgendeinen 
Versionsstand abspalten, wie das Directmedia längst vorgemacht hat).

Dann gibt es bei Debian noch "Unstable", das nicht als Betriebssystem 
zur Verwendung von Endbenutzern gedacht ist, sondern sich an Entwickler
richtet. Das ist m.E. das eigentliche Äquivalent, das in Form der
Wikipedia derzeit online ist: Wikipedia-"Entwickler" sind die
Wikipedianer, und an sie richtet sich m.E. primär der derzeitige
Content. Außenstehende können das nutzen, müssen sich aber -- genau wie
bei Debian-"Unstable" -- der Risiken bewusst sein. Die sind im Falle von
Debian ein möglicherweise nicht lauffähiges oder instabiles
Betriebssystem und im Falle der Wikipedia Fehler, Widersprüche und
Ungereimtheiten.

Bottomline: Wikipedia sollte klarer unterscheiden zwischen Projektziel
und aktuellem Status, und den aktuellen Status entsprechend kenntlich
machen ("Benutzung auf eigene Gefahr").

> Dass die das machen würden, und dass man aus genau dem Grund extrem 
> vorsichtig sein sollte, *überhaupt* irgendwelche Produkte/Unternehmen
> außer den ganz großen aufzunehmen, predige ich schon seit 
> siebzigeinundziebzig.

Aber auch das ist leider wieder keine Lösung, sondern ein Wegdefinieren
des Problems. In einem Umfeld, in dem Wissen und Werte ziemlich
unstrittig zunehmend kommodifiziert werden funktioniert das m.E. nicht;
die Benutzer suchen ja anscheinend gerade nach unabhängigen bzw.
neutralen Informationen über *ihre* Umwelt, und die ist nunmal faktisch
massiv von Werbung, Waren und Produkten geprägt. Wenn man das
definititorisch umschifft, adressiert man eine Elfenbein-Turm-Realität,
nicht jedoch die der Benutzer.

Außerdem sind leider auch nicht alle der "ganz großen" nicht und über 
Kritik und versuchte Öffentlichkeits-Manipulationen erhaben. Mit einer 
solchen Selektion hält man sich auch wieder nur die kleinen Wadenbeißer 
vom Hals und schafft sich das alte Abgrenzungsproblem (ab wann ist ein 
Unternehmen/Produkt "ganz groß"?)

> Nein, aber mit einer Atmosphäre, in der die entsprechenden Interessen
> von Teilnehmern auffallen, und in denen man diese Teilnehmer eben 
> auch aussperren kann.

Aber dann kommen die doch ein paar {Minuten|Stunden|Tage} später unter
einer neuen Deckadresse wieder; so lange Accounts und E-Mail-Adressen
nicht an juristisch relevante Identitäten (PostIdent!) gekoppelt sind,
bereitet die Sperrerei den Projekt-Admins mehr Mühe als den "Gegnern"
beim Anlegen neuer (Instant-) Accounts. Prinzipiell reicht ja selbst ein 
PostIdent nicht aus, sondern man müßte sich in persönlichen Treffen der 
Identität und vor allem der Integrität (!) der Koautoren vergewissern...

> Gegen kriminelle Energie kommt man natürlich nicht an, aber wenn man 
> sagt, man nimmt eben bspw. nur die großen Konzerne auf und 
> irgendwelche echten Meilenstein-Produkte (und nicht jedes Modell 
> jedes Autoherstellers), dann ist man in einem Bereich, wo die 
> Interssierten sich hüten werden, mit krimineller Energie vorzugehen, 
> weil - würde es publik - das ganz massiv schadet.

Das abstrahierte Beispiel, das ich angeführt habe, belegt leider
faktisch das Gegenteil; ein umsatzstarkes Unternehmen wird sich nur
Sorgen machen um "schlechte Presse", wenn ein Minimum an
Unternehmensethik vorhanden ist. Bei dem Beispiel, das ich im Auge habe,
  ist das aber definitiv nicht der Fall, gezielte (und leider auch
erfolgreiche) Presse- und Meinungsmanipulation gehört da zum
Grundrepertoire der Unternehmenskommunikation (wir können das konkrete
Beispiel leider nicht auf einer öffentlichen Mailingliste diskutieren).

[ "100-Augen-Prinzip" ]

> Ja - und das liegt eben m.E. daran, dass man die neuen nicht richtig
> "erzogen" (gecoacht, angeleitet, such dir was aus), sondern sie 
> einfach *alles* machen ließ (bunte Navigationsleisten aufbauen, 
> Ortsstubs einstellen u.s.w), weil man ja ein bottom-up-Wiki ist. So 
> hat man sich Wikipedianer "herangezüchtet", die in erster Linie auf 
> blanke Masse, auf Sammeltrieb und auf Klickibuntiweb eingestellt 
> sind. Und nicht auf *Texte lesen, verstehen und schreiben*. Die 
> Klickibuntiwikipedianer ziehen in großer Menge neue 
> Klickibuntiwikipedianer heran. Die Textschreiber kommen nicht nach, 
> im von den Klickibuntiwikipedianern produzierten Rauschen echte 
> Verschlimmbesserungen auszufiltern und zu korrigieren, und lassen es
> irgendwann sein. Dass das für eine Enzyklopädie nicht gut sein kann,
> wollte ja keiner glauben, nu muss man es ausbaden.

M.E. liegst Du damit wieder neben dem Problem der Wikipedia;
Navigationsleisten und Ortsstubs siehst *Du* als Problem, es ist aber
keins der Wikipedia; die "Pannen" der letzten Wochen haben sich ja nicht
in diesen Bereichen ereignet, sondern ganz woanders.

Ob man bunte Navigationsleisten und Stubs mag, steht doch auf einem ganz 
anderen Blatt; ziemlich sicher verschlechtern sie jedenfalls nicht die 
Qualität von Artikeln wie [[Bill Gates]] oder [[Jane Fonda]], die werden 
doch von den Aktivitäten deiner "Klickibuntiwikipedianer" gar nicht 
tangiert.

Es wäre doch eine Illusion anzunehmen, man könnte jemanden, der Spaß 
daran hat, bunte Navigationsleisten zu bauen, einfach so zum Redigieren 
vom komplizierten Texten "umdressieren"; das sind unterschiedliche
Zielgruppen von Wikipedianern, und da Wikipedia ein Freiwilligen-Projekt 
ist, kann und will man doch wohl niemanden dazu zwingen, Aufgaben zu 
erledigen, auf bzw. für die der/die Begtreffende gar keine Lust (Zeit, 
Kompetenz...) hat.

Das Problem scheint doch eher zu sein, dass komplizierte und/oder lange
Texte aus dem Ruder laufen und in dem Bereich nicht genügend kompetente
Freiwillige (!) nachgewachsen sind, die Willens und in der Lage sind, 
sich tage- und wochenlang in Grabenkämpfe verwickeln zu lassen. Du 
würdest jetzt vermutlich argumentieren, das die "Klickibunti"-Fraktion 
diese andere Zielgruppe abgeschreckt hat, aber ich glaube, dass andere 
Mechanismen demotivierend sind (insbesondere die 
Löschantrags-Modalitäten, die m.E. das K.O.-Kriterium für jeden 
renommierten und institutionalisierten Akademiker bilden; nur extrem 
hartgesottene Profs und Wimis können es sich antun, eine Watchlist 
kontinuierlich darauf zu prüfen, ob irgendein Erstsemester ihren 
hochgeistigen Beitrag zerlegt hat).

Außerdem könnte man die These aufstellen, dass das Wiki-Prinzip
möglicherweise Grenzen hat (vgl. meine K3-Kriterien, die vom
Wiki-Prinzip zwangsläufig systematisch unterlaufen werden); vielleicht
könnte man da einiges algorithmisch ausbügeln, aber m.W. macht sich
derzeit niemand Gedanken darum. Eine pragmatische Lösung (ohne
grundsätzliche Umbauten der Software) könnte dabei übrigens auch wieder
die Abspaltung eines "Testing"-Zweiges sein, in die neue Artikel nur
kontrolliert einfließen und in der sich Edits ausschließlich auf
definierte Qualitätskriterien (K3, Korrektur/Verifizierung, von mir aus
auch Elminieren von Stubs und Abspecken von Navigationsleisten etc.)
beziehen, nicht jedoch auf das Neuanlegen von Content.

MfG -asb