[Wikide-l] Frage: Gibt es ein "Krise der Wikipedia" und sind die Probleme neu?
Agon S. Buchholz
asb at kefk.net
Fr Dez 9 04:39:34 UTC 2005
Ulrich Fuchs wrote:
> Das Problem der Wikipedia ist nicht mit Artikelsperren zu lösen,
> sondern m.E. nur mit: 1) einer klaren Definition von oben, was man
> sein will und was nicht,
Wikipedia funktionert bisher "Bottom-up", ist also ein prototypisches
Graswurzelprojekt. Ansagen "von oben" ("oben" = Jimbo Wales, der
Hinterzimmer-Club etc.) würden diesen Vektor umkehren, mit allen Folgen,
die eintreten, wenn man fundamentale Prinzipien übergeht (z.B.
Rotationsprinzip bei den Grünen). Irgendwas würde das sicherlich auch
für die Wikipedia bewirken, vielleicht würde es sogar nur ein bißchen
schaden, ganz sicher wäre Wikipedia jedoch nicht mehr das Projekt, das
unter [[Wikipedia]] beschrieben wird.
Deine Idee löst also nicht ein Problem der Wikipedia, sondern definiert
das Projekt um, um damit ein anderes Problem zu lösen, dass die
derzeitige Wikipedia gar nicht hat. Bekanntlich hat der halboffene
"Top-down"-Ansatz à la Larry Sanger ja auch nicht funktioniert.
> 2) einer verpflichtenden Anmeldung mit email-Bestätigung (um den
> Aufwand zur Anmeldung hoch zu treiben);
Das Problem von böswilligen oder manipulativen Edits löst das nicht,
sondern verschiebt es allenfalls graduell. Ich meine hier nicht
irgendwelche einsamen Spielkinder, die "HALLO MUTTI" in den Artikel über
Martin Heidegger schreiben, sondern die richtig üblen Gesellen, die
planmäßig und zielgerichtet vorgehen.
Beispiel (aus der Wikipedia-Realität, hier aus verschiedenen Gründen
etwas abstrahiert): Seitdem Wikipedia wichtig geworden ist, hat nicht
zuletzt die Marketing-Mafia Wikipedia entdeckt; die Leute werden ja
bekanntlich für ihren Viral-Schweinkram bezahlt, im Gegensatz zu den
Wikipedia-Freiwilligen; schon hier beginnt also die
Ungleichgewichtigkeit. Am Anfang eines Lernprozesses hat man erst
versucht, grob zu manipulieren (anonyme Edits, Löschen des
Artikelinhalts, Austauschen gegen Marketingmaterial etc.); das ist meist
rasch aufgeflogen, seitdem hat man gelernt, subtiler vorzugehen. Die
Edits kommen beispielsweise derzeit noch immer aus bestimmten Subnetzen,
die auf gewisse Firmen und ihre Werbeagenturen registriert sind, aber
Benutzeraccounts hat man längst eingerichtet, man ersetzt Artikelinhalte
nicht mehr auf einen Schlag, sondern schleichend und über einen Zeitraum
von mehreren Monaten. Und man vermeidet es, Werbetexte zu posten, die
ein aufmerksamer Wikipedianer auch anderswo im Netz auffinden kann.
*Wir* haben denen beigebracht, worauf sie achten müssen, als wir auf
Diskussionsseiten offengelegt haben, wie wir beispielsweise bei Google
nach einer URV suchen, dass wir anonyme Edits aufmerksamer beobachten
als solche von angemeldeten Benutzern usw.
Dieser Lernprozess hat bei unseren Gegnern gerade mal ein Jahr gedauert
-- vorher war Wikipedia weder als politisch noch ökonomisch bedeutsam
wahrgenommen worden. Jeder kann nun permutieren, was die
Marketing-Verbrecher im nächsten halben Jahr lernen werden und welcher
unbezahlte Wikipedianer in der Lage sein wird, der geballten
Interessenagglomeration der Gegenseite systematisch nachzuspüren.
Ich will damit ausdrücken, dass Du mit Kindereien wie
Registrierungspflicht mit gültiger E-Mail-Adresse nicht gegen massive
Interessen ankommst, insbesondere dann nicht, wenn man sie einen
kommerziellen Backgrund haben; dann werden eben rasch Tarn-Adressen
aufgesetzt, ebenso wie Werbeagenturen mittlerweile Dienstleister für das
Betreiben von Linkfarmen bezahlen; den Aufwand betreibt man auch erst,
seitdem Google-Rankings als relevant eingestuft werden; einen
entsprechenden Aufwand wird man betreiben, wenn andere
Informationsquellen relevant werden -- und dazu gehört mittlerweile
nunmal die Wikipedia. Firmen, die erfundene Presseberichte in ihrer
Werbung abdrucken oder gefakte Pseudodokumentationen produzieren, wirst
Du definitiv mit einer Registrierungspflicht nicht abschrecken. Wenn
schon, dann müßte man eine solche Identifikation rechtsverbindlich
machen, und das bedeutet PostIdent für jeden, der schreiben will. Ich
mag PostIdent, für ein Wiki macht das aber keinen Sinn.
Wikiweise hat ein solches Problem nicht, weil es -- bitte versteh' das
nicht falsch -- unbedeutend ist und von keinem unserer gemeinsamen
Gegner ernst genommen wird. Sollte Wikiweise irgendwann einmal in den
Sichtkreis dieser Interessengruppen gelangen, wirst Du das sicherlich
als erster bemerken und dann feststellen, dass Deine Schutzmechanismen
auch nicht ausreichen, nur werden sie vielleicht ein paar Wochen länger
halten.
Etwas allgemeiner formuliert: Die Gegenseite, von der ich spreche, sind
Vertreter von Partikularinteressen; das kann eine Firma sein, oder ein
Branchenverband, oder meinetwegen auch eine Partei oder eine Sekte.
Diese Partikularinteressen decken sich nur minimal oder überhaupt nicht
mit denen der allermeisten Wikipedianer und widersprechen per Definition
dem NPOV-Grundsatz. Der beste Schutz gegen die Durchsetzung von solchen
Partikularinteressen in offenen Projekten besteht in einem radikalen
Bekenntnis zu einem klaren Grundsatz wie NPOV in Kombination mit der
geballten Macht der "Massen"; im Prinzip funktioniert das
"100-Augen-Prinzip" gut genug, nur müssen die hundert Augen in demselben
Maßstab skalieren, wie die Gegenseite "aufrüstet". Konkret bedeutet das,
Wikipedia muß mehr aktive, engagierte und kompetente Mitarbeiter finden,
damit überhaupt wieder hundert Augen zum Gucken da sind -- momentan
scheint das Verhältnis längst zu Ungunsten der Wikipedia gekippt sein,
und hundert "Partikularisten" werden mit einem halben und dann auch noch
übermüdeten Wikipedianer-Auge beobachtet. Das Problem ist m.E., dass das
"100-Augen-Prinzip" momentan ausgehebelt ist und nicht in dem Maßstab
engagierte Wikipedianer "nachgewachsen" sind, wie die Bedeutung der
WIkipedia zugenommen hat.
Ich glaube daher nicht, dass halbherzige Beschränkungen (maximal "n"
neue Edits pro Tag, Pseudo-Registrierungspflicht etc.) irgend etwas
lösen; sie doktorn an Symptomen herum, lösen jedoch das Problem nicht.
MfG -asb