[Wikide-l] Besinnung auf Relevanz

Ulrich Fuchs mail at ulrich-fuchs.de
Do Dez 1 07:12:59 UTC 2005


Am Mittwoch, 30. November 2005 20:23 schrieb Agon S. Buchholz:


> Was Du m.E. einfach nicht sehen willst ist, dass enzyklopädisches
> relevantes Wissen möglicherweise genau das sein könnte, was Benutzer in
> der Wikipedia hinterlassen, zu hinterlassen versuchen oder eben
> nachschlagen. 

Das sehe ich in der Tat nicht. Enzyklopädisch relevantes Wissen ist das, was 
Benutzer in der Wikipedia *nachschlagen* (wollen). Punkt. Und das ist nicht 
zwangsläufig das, was die aktuelle Community in der Wikipedia hinterlässt 
oder zu hinterlassen versucht. Wenn beides übereinstimmte, würde ich Dir 
völlig recht geben: Das wäre ja genau die Idee, warum eine Wiki-Enzyklopädie 
funktioniert. Was Du übersiehst, ist, dass es bestimmte Zustände gibt, in 
denen die Zusammensetzung der "Wissens-Hinterlasser" nicht mit der 
Zusammensetzung der "Wissens-Nachfrager" übereinstimmt. Dann passiert genau 
das, was mit der Wikipedia passiert: Der nicht-abgedeckte Teil der Nachfrager 
wendet sich ab und wird eben nicht Wissens-Hinterlasser. Somit stabilisiert 
sich das System bei dem Wissen, das zu diesem Zeitpunkt für diese Community 
relevant war. Wikipedia ist daher heute eine gute Enzyklopädie der 
Populärkultur des nerdig/geekigen Bevölkerungsanteils, und ein ganz 
brauchbares Nachschlagewerk für Grundbegriffe in den Bereichen 
Naturwissenschaften und Mathematik/Informatik. So lange man nur den jeweils 
ersten Absatz der Artikel liest. Für den geistes-kulturwissenschaftlichen 
Bereich findet sie kaum Autoren, und über die Gründe nachzudenken würde sich 
schon mal lohnen.

> Wissen ist per Definition biografisch gebunden und kann 
> daher nicht als absolut gültige Entität erscheinen. Platt gesagt, eine
> ernst gemeinte Enzyklopädie wird nicht den Anspruch erheben können, wie
> die zehn Gebote von einem Gott als absolutes Wissen gnadenvoll erteilt
> worden zu sein, sondern muß etwas mit den Wissensbedürfnissen der
> Benutzer zu tun haben. 

Richtig. Aber jetzt stellst Du auch wieder auf die Nachfrager-Seite ab.

> Wenn Wikipedia-Benutzer beispielsweise nur nach 
> [[Sex]] nachschlagen würden (was nicht der Fall ist), wäre das m.E. ein
> Informationsbedürfnis, das man sehr ernst nehmen und nicht als
> Schmuddelkram aus der Welt reden wollen sollte.

Gebe ich Dir auch recht. Wenn Wikipedia aber - wie die englischsprachige - zu 
jedem Porno-Starlet eine Biografie liefert, die länger ist als die von Goethe 
(nicht geprüft), kommuniziert sie damit eine bestimmte Ausrichtung, wird zur 
Spezial-Enzyklopädie. Und damit kuckt man eben nur noch rein, wenn man wissen 
will, wie Knocka La Granda zu ihrem Vorbau kam. Und schreibt halt auch 
entsprechende Artikel.

> In diesem Punkt, nämlich dass enzyklopädisch relevant nur das sein kann,
> was Leute auch wissen wollen, irrt sich m.E. auch Blocklaus ganz fatal;

Was wäre es sonst? Was Leute nicht wissen wollen? Brockhaus und meine 
Wenigkeit (und viele andere auch) sehen eine Enzyklopädie heute als 
Arbeitsmittel, nicht als Selbstzweck. Sogar als vom Nutzwert unabhängiges 
aufklärerisches Projekt verstanden müsste sich die Wikipedia an die Nase 
packen, wenn sie Halbwissen transportiert. Ich verstehe ehrlich gesagt nicht, 
welchen Sinn Dein Verständnis von einer Enzyklopädie als Grablege von Texten 
hat, die irgendwen irgendwann mal interessiert haben aber für alle anderen 
ohne Belang sind?

> m.W. wird dort viel zu wenig Benutzerforschung betrieben, wan weiß nicht
> wirklich, was die Benutzer wissen wollen, und ich habe den Verdacht,

Doch, ich denke mal, man weiß das sehr genau.

> dass man es eigentlich auch gar nicht wissen will -- Blocklaus will
> schließlich seine Weltsicht verbreiten, auch das ist seit Jahrhunderten

Nein, Brockhaus will seine Bücher verkaufen und damit Geld verdienen.

> Programmatik von Enzyklopdie, und dieses Prinzip wird erstmals in der
> Geschichte von Wikipedia ansatzweise auf den Kopf gestellt.

Das war seit mindestens 50 Jahren nicht mehr Programmatik der Enzyklopädie, 
insofern hat Wikipedia da gar nix auf den Kopf gestellt.

> Nach welchen (m.E. sehr unlauteren und ziemlich unwissenschaftlichen)
> Kriterien die Konstruktion der Weltsicht à la Blocklaus geschieht, hat
> uns doch kürzlich erst Mathias wieder demonstriert am Beispiel der in
> Blocklaus-Publikationen munter mutierenden Beiträge zu "Wikipedia" und
> "Enzyklopädie". 

s.o. Die Programmatik ist, Bücher zu verkaufen. q.e.d. Dass dabei der 
fachliche Anspruch dem marketingtechnischen untergeordnet wurde, halte ich 
für einen schweren und leider managementtypischen Fehler.

> Was manch einer für "enzyklopädisch relevant" halten 
> mag, ist ein Wissensverständnis, das von Akteurern wie dem BIFAB unter
> Ausschluß der Wissensnachfrager ankonditioniert wurde und somit nicht
> allzu weit vom Pawlowschen Reflex entfernt ist - weil es leider allzu
> unreflektiert ist.

Da magst Du sicher Recht haben. Man muss durchaus aufpassen, dass man nicht 
die Zeit verschläft. Dennoch glaube ich, dass man einen Themenraster bauen 
kann, bei dem unterschiedliche Bereiche unterschiedlich detailliert 
abgehandelt werden. In dreißig Bänden kriegt man viel unter, im Web noch 
mehr. Nur eben auch dort nicht unbegrenzt viel: Das Wissen hat immer ein 
Findeproblem. Und das kriegt man nicht mit Technik in den Griff, die aus 
einem großen Textkorpus das richtige rauszieht (auch google wird zunehmend 
unbrauchbar), sondern nur mit unterschiedlichen Textkorpi für 
unterschiedliche Zwecke. Und somit stellt sich für jedes Textwerk, auch die 
Wikipedia, die Frage, für welchen Zweck sie denn da ist. Die Frage hat sie 
meines Erachtens bis heute nicht richtig beantwortet.

Uli