Zur Information: Rezension über eine Studie zu Enzyklopädien im 20. Jahrhundert
Gruß
Ziko
---------- Weitergeleitete Nachricht ----------
Von: HSK (Stefan Jordan) <hsk.mail(a)geschichte.hu-berlin.de>
Datum: 29. August 2011 18:41
Betreff: Rez. TM: I. Prodoehl: Politik des Wissens
An: van Dijk <zvandijk(a)googlemail.com>
From: Ulrike Spree <ulrike.spree(a)haw-hamburg.de>
Date: 30.08.2011
Subject: Rez. TM: I. Prodöhl: Politik des Wissens
------------------------------------------------------------------------
Prodöhl, Ines: Die Politik des Wissens. Allgemeine Enzyklopädien
zwischen 1928 und 1956. Berlin: Akademie Verlag 2010. ISBN
978-3-05-004661-7; VII, 301 S.; EUR 49,80.
Rezensiert für H-Soz-u-Kult von:
Ulrike Spree, Department Information, Hochschule für Angewandte
Wissenschaften Hamburg
E-Mail: <ulrike.spree(a)haw-hamburg.de>
Ines Prodöhl beschließt ihre Untersuchung[1] zu deutsch(sprachig)en
Enzyklopädien zwischen 1928 und 1956 mit einem zutiefst enzyklopädischen
- im Sinne der französischen Enzyklopädisten - Plädoyer für einen
"vorsichtigen Umgang und die kritische Frage nach der Zuverlässigkeit"
(S. 268) des in allgemeinen Enzyklopädien präsentierten Wissens. In drei
Fallstudien arbeitet sie die subtilen Mechanismen heraus, durch die
allgemeine Enzyklopädien nicht nur den aktuellen Wissensstand einer
Epoche festhalten, sondern vor allem aufgrund der ihnen zugestandene
Definitionsmacht über das, was als jeweils wissenswert gilt, als Mittel
der politischen und ideologischen Einflussnahme eingesetzt werden. Es
ist die besondere Leistung ihrer Untersuchung, dass sie die Frage nach
dem Einsatz von Enzyklopädien als Mittel der politischen Einflussnahme
in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts nicht auf totalitäre
Gesellschaften wie das nationalsozialistische Deutschland und die frühe
DDR beschränkt, sondern durch die Einbeziehung des in den Jahren
1945-1948 beim Encyclios Verlag in Zürich erschienenen "Schweizer
Lexikon" zeigen kann, wie allgemeine Nachschlagewerke auch in
demokratischen Gesellschaften als Mittel zur Ausübung kultureller und
ideologischer Macht funktionalisiert wurden.
Der Arbeit liegt ein weites Verständnis von Enzyklopädie im Sinne von
Werken, die "von sich selbst behaupten, Informationsquellen des so
genannten Allgemeinwissens zu sein" (S. 1) zugrunde. Prodöhls Arbeit
liefert grundlegende Erkenntnisse über die gesellschaftliche Funktion
von Enzyklopädien. In ihrer Untersuchung orientiert sie sich an den zwei
einfachen Ausgangsfragen danach, wer festgelegt, welches Wissen in eine
allgemeine Enzyklopädie aufgenommen wird und welche Funktionen das auf
diese Weise kanonisierte Wissen erfüllt. Mit ihrem Ansatz schließt
Prodöhl an das innovative interdisziplinäre Schweizer Forschungsprojekt
"Allgemeinwissen und Gesellschaft" (2002-2006) an, das danach fragte,
wie gesellschaftlich anerkanntes Wissen vermittelt wird und die
Gesellschaft in ihren Wahrnehmungs- und Deutungsmustern prägt.[2] In
ihrem Forschungsüberblick arbeitet die Autorin drei Beweggründe eines
geschichtswissenschaftlichen Interesses an allgemeinen Enzyklopädien
heraus: die Beschäftigung mit Enzyklopädien im Zusammenhang mit
begriffsgeschichtlichen Untersuchungen, die Analyse ihrer Rolle im
Prozess der Nationenbildung und der Konstruktion nationaler Identitäten
sowie ihres Stellenwertes als Medien des grenzübergreifenden globalen
Transfers von Wissen. Die methodische Klammer ihrer drei Fallstudien
liefert ihr der Ansatz des interkulturellen Transfers oder auch
Kulturtransfers, da dieser - anders als im strengen Sinne
komparatistische Ansätze - die Analyse des Transfers von Ideen,
Institutionen oder Praktiken in Bezug auf konkrete Einzelphänomene
erlaubt.
Eine grundsätzliche methodische Schwierigkeit der wissenschaftlichen und
insbesondere der vergleichenden Analyse des in Enzyklopädien
kanonisierten Wissens ist die Bestimmung der Quellenbasis. Fällt die
Entscheidung auf den inhaltsanalytischen Ansatz, besteht von Beginn an
das Problem der Festlegung der Artikelauswahl - angesichts des Umfanges
solcher Werke verbietet sich eine Vollerhebung in der Regel. Wo die
Inhaltsanalyse nicht greifen kann, wird häufig auf die Rekonstruktion
der Publikationsgeschichte einzelner Werke zurückgegriffen. Prodöhl
wählt einen innovativen dritten Weg, indem sie sich auf die Untersuchung
des Beziehungsgeflechts dreier großer enzyklopädischer Projekte
konzentriert. Dieser Ansatz erlaubt es die Wechselwirkungen zwischen
staatlichen, zivilgesellschaftlichen und unternehmerischen Akteuren und
Aktivitäten zu berücksichtigen. Als wichtige analytische Kategorie
greift Prodöhl den auf den Politikwissenschaftler Joseph S. Nye
zurückgehenden Ansatz der 'soft power', der 'weichen Macht', auf. Weiche
Macht bezeichnet die Machtausübung innerhalb von Gemeinwesen, die sich
als Ausdruck der Mehrheit der Gesellschaft präsentiert und eher auf
Überzeugungskraft und Attraktivität der Ziele setzt als auf explizite
politische Zwangsmaßnahmen. Unter der Prämisse, dass es für Diktaturen
Ziel führend sein kann, in der Zivilgesellschaft bestehende weiche Macht
nicht zu verbieten, sondern für ihre Zwecke zu nutzen und zu steuern,
lässt sich dieser - ursprünglich zur Untersuchung von ökonomischen und
gesellschaftlichen Strukturen in Demokratien entwickelte Ansatz - auch
auf die Analyse totalitärer System anwenden (vgl. S. 24).
In der Fokussierung auf die Publikationsgeschichte(n) von Enzyklopädien
aus dem Verlag F. A. Brockhaus, dem Bibliographischen Institut und einer
Verlagskooperation von fünf Schweizer Verlagen gelingt es Prodöhl die
diachrone Perspektive immer wieder mit synchronen Vergleichen zu
verschränken. In drei diachronen Schnitten arbeitet die Verfasserin die
Entstehung ausgewählter allgemeiner Enzyklopädien im
Untersuchungszeitraum (1928-1956) auf. Im Mittelpunkt des ersten
Fallbeispiels steht eine vergleichende Darstellung der
Publikationsgeschichte der 15. Auflage des Großen Brockhaus (1928-1935)
und der 8. Auflage von Meyers Lexikon (1936-1942). In ihrer dichten
Darstellung der ökonomischen, sozialen und politischen Verflechtungen
lotet Prodöhl sensibel den Handlungsspielraum der Akteure zwischen
stiller Anpassung und der Verfolgung eines dezidiert
nationalsozialistischen Kurses aus. Berücksichtigt wird der Einfluss
behördlicher Überwachungsmaßnahmen und kulturpolitischer Interessen
ebenso wie die wirtschaftliche Positionierung der Verlage und ihrer
Mitarbeiter. Untersuchungsgegenstand sind neben personellen
Verflechtungen auch Auseinandersetzungen zwischen Zensurbehörden,
Verlagen und Autoren über einzelne Stichworte wie Konzentrationslager
oder Schriftwalter (S. 114). Als wahrer Glücksgriff entpuppt sich die in
der zweiten Fallstudie durchgeführte vergleichende Darstellung
konkurrierender Lexikonprojekte in Deutschland und der Schweiz zum Ende
des Zweiten Weltkrieges. Prodöhl stellt die lexikographischen
Aktivitäten in den Kontext des Schweizer Buchhandels- und Verlagswesens.
Eine ähnliche sinnvolle Kontextualisierung bereichert auch das dritte
Fallbeispiel, das die Darstellung der wechselvollen Entwicklung
lexikographischer Projekte in der Sowjetischen Besatzungszone und der
frühen DDR im Kontext der Zentralisierung und Kontrolle privater Verlage
diskutiert. Unter anderem aufgrund dieser Kontextualisierung und der
Aufarbeitung der Geschichte des - letztlich gescheiterten -
Übersetzungsprojektes der Bol'saja Sovetskaja Enciklopedija in der DDR
gelangt Prodöhl zu dem verblüffenden Ergebnis, dass die in den
Entstehungsprozess der jeweiligen Enzyklopädien involvierten
zivilgesellschaftlichen Akteure und Unternehmen im 'Dritten Reich'
größere Freiräume hatten als in der SBZ/DDR. Im Fazit verdichtet Prodöhl
ihre Ergebnisse überzeugend auf sechs Thesen (vgl. S. 260-263), wobei
vier Thesen eher inhaltlicher Natur und zwei Thesen eher methodischer
Natur sind.
1. Das Konversations-Lexikon des 19. Jahrhunderts kann verstanden werden
als eine Form der "zivilgesellschaftlichen Selbstbehauptung".
2. Die im 19. Jahrhundert angelegte national orientierte
Identitätsstiftung allgemeiner Enzyklopädien verschärfte sich im
Nationalsozialismus und in der DDR.
3. Sowohl im nationalsozialistischen Deutschland als auch in der
SBZ/DDR, aber eben auch in der demokratischen Schweiz, wurden
Enzyklopädien genutzt um Akzeptanz für staatlich-administrative
Maßnahmen zu erzeugen und die Wertvorstellungen einer Gesellschaft im
Sinne der herrschenden Ideologie zu beeinflussen.
4. Trotz, oder eher wegen der nationalen Ausrichtung, enthalten
Allgemeine Enzyklopädien immer auch eine an das Ausland gerichtete
kulturpolitische Botschaft. Ausschlaggebend hierfür können neben im
engeren Sinne ideologischen auch ökonomische Ziele (zum Beispiel
Absatzsteigerung, Marktbesetzung) sein.
5. Das zur Analyse zivilgesellschaftlicher politischer Einflussnahme in
demokratisch verfassten Gesellschaften entwickelte Konzept der weichen
Macht eignet sich auch für die Untersuchung von Machtstrukturen in
totalitären Systemen.
6. Die Analyse kultureller Transferleistungen ist ein sinnvolles
methodisches Instrumentarium zur Erforschung globaler Verflechtungen.
Ines Prodöhl gibt in ihrer Untersuchung auf der Basis profunder
Primärquellen-Arbeit einen tiefen Einblick, wie Gesellschaften
Enzyklopädien nutzen, um Identität zu stiften und einen
gesellschaftlichen Konsens über das jeweils "zu Wissende" zu erzeugen.
Ganz nebenbei eröffnen die sorgfältig eng an den Quellen erarbeiteten
Fallstudien interessante Aufschlüsse über die Geschichte des Verlags-
und Buchhandels in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Sorgfältige
Quellenarbeit bei gleichzeitiger theoretischer Unterfütterung gehen
jedoch an keiner Stelle auf Kosten der guten Lesbarkeit. Mit ihrer
Arbeit hat Prodöhl einen Standard für die historische Auseinandersetzung
mit allgemeinen Enzyklopädien gesetzt und bietet zahlreiche
Anknüpfungspunkte für weitere historische Analysen zum Beispiel über das
Zusammenwirken wirtschaftlichen Handelns und ideologischer Einflussnahme
in unterschiedlichen totalitären Systemen. Über den engen historischen
Rahmen hinaus weist Prodöhl mit ihrem Ansatz auch einen methodischen Weg
für die Untersuchung von Funktion und Wirkungsweise zeitgenössischer
kollaborativer Enzyklopädieprojekte wie Wikipedia oder Conservapedia.
Fazit: eine absolut lesenswerte Studie, der eine breite Leserschaft weit
über den engen Kreis der historischen Zunft hinaus zu wünschen ist.
Anmerkungen:
[1] Das Buch basiert auf einer leicht überarbeiteten Fassung der
Dissertation von Ines Prodöhl, die unter dem Titel "Die Politik des
Wissens. Allgemeine Enzyklopädien im 'Dritten Reich', in der Schweiz und
in der SBZ/DDR' im WS 2007/2008 von der Philosophischen Fakultät der
Universität Heidelberg angenommen wurde.
[2] "Allgemeinwissen und Gesellschaft", <www.enzyklopaedie.ch>
(27.07.2011).
Diese Rezension wurde redaktionell betreut von:
Stefan Jordan <jordan(a)ndb.badw-muenchen.de>
URL zur Zitation dieses Beitrages
<http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/2011-3-119>
------------------------------------------------------------------------
Copyright (c) 2011 by H-Net, Clio-online, and the author, all rights
reserved. This work may be copied and redistributed for non-commercial,
educational purposes, if permission is granted by the author and usage
right holders. For permission please contact H-SOZ-U-KULT(a)H-NET.MSU.EDU.
Falls Sie Fragen oder Anmerkungen zu Rezensionen haben, dann schreiben
Sie bitte an die Redaktion von H-Soz-u-Kult:
<hsk.redaktion(a)geschichte.hu-berlin.de>
_________________________________________________
HUMANITIES - SOZIAL- UND KULTURGESCHICHTE
H-SOZ-U-KULT(a)H-NET.MSU.EDU
Redaktion:
E-Mail: hsk.redaktion(a)geschichte.hu-berlin.de
WWW:
http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de
_________________________________________________
--
Ziko van Dijk
The Netherlands
http://zikoblog.wordpress.com/