Kurt Jansson jansson@gmx.net writes:
Das habe ich jetzt noch nicht verstanden. Wo genau liegt das Problem bei der Verwendung aktueller Enzyklopädien? Paraphrasieren ist ja zum Glück noch nicht verboten, und Fakten als solche fallen nicht unter das Urheberrecht.
Glanz und Elend jeder philologischen Arbeit - und die Verfertigung von Enzyklopädien ist philologische Arbeit par excellence - besteht darin, bei der schöpferische Aufbereitung und Aneignung (Rezeption) des Wissens der früheren Generationen und seiner Einordnung in das Weltbild der Gegenwart die Balance zu halten zwischen stumpfsinnigem Abschreiben dessen, was schon andere Abschreiber von anderen Abschreibern abgeschrieben (kompiliert) haben und dem Rückgriff auf die Quellen, von denen die ersten Abschreiber abgeschrieben haben. Philologie und Enyklopädistik ist also im wesentlichen Quellenforschung. In einer Enzyklopädie, die den Namen verdient, will ich nicht (nur) lesen, dass Sokrates 399 c. Chr. hingerichtet wurde. Das finde ich auch in der Encarta. Ich will erfahren, woher wir das wissen (von Platon, Xenophon usw. = Quellengaben) und ich will erfahren, warum das heute für uns noch wichtig ist (= Einordnung in das Weltbild der Gegenwart).
Wikipedia bietet, finde ich, die einmalige Chance, nicht nur den wiedergekäuten Brei kommerzieller Enzyklopädien for free anzubieten, sondern etwas Besseres zu liefern. Beispiel Encarta: Da steht unter Mithraskult, dass dieser aus Sizilien nach Rom kam. Das ist Quatsch. Die eigentliche Quelle ist Plutarch. Bei Plutarch ist aber nicht von Sizilien die Rede, sondern von Kilikien. Hier hat offenbar einer irgendwann falsch abgeschrieben und Encarta hat es unbesehen übernommen. Da Encarta die Quelle nicht nennt, merkt es keiner und nach 100 Jahren fleißigem Encarta-Gebrauch (in den Schulen!) ist der Quatsch Allgemeinwissen.
Was nun die von einer modernen Enzyklopädie zu leistende Einordnung alten Wissens in das Weltbild der Gegenwart angeht - da ist die Benutzung vorhandener Enzyklopädien besonders gefährlich. Beim Abschreiben aus Meyer 1888 bemerkt jeder, dass manches heute so nicht mehr gesehen werden kann. Beim "Abschreiben" aus modernen Enyklopädien ist das Problem subtiler. Denn wir sind ja alle bereits durch diese Art von Allgemeinbildung (oder Allgemeinirrtum) geprägt, die in diesen Werken fortgeschleppt wird. Und da ist das Wiki-Konzept eben auch wieder bahnbrechend und in gewisser Weise revolutionär. Da jeder ändern kann und eine Diskussion des Inhalts stattfindet, wenn sich Widerspruch erhebt, kann erstmals eine wirkliche aktuelle Aneignung dessen stattfinden, was bisher vielfach nur als toter Bildungsballast unbesehen tradiert wurde.
Deswegen meine ich: Vorhandene Enzyklopädien sind ein guter Ausgangspunkt für eigene Studien und Überlegungen. Wo es um bloße Faktenhuberei geht, kann auch viel übernommen werden. Gerade in den wertenden (einordnenden) Passagen sollte aber besser ganz Eigenes geschrieben werden. Auch wenn es nicht so professionell (wie durch jahrhundertelanges Abschreiben abgeleckt) klingt. Es kann ja verbessert werden.