Lieber Olaf,
ich bin Dir sehr dankbar, dass Du diese Frage so intensiv aufgreifst,
die auch mich als Wissenschaftlerin beschäftigt.
On 28.11.10 13:32, Olaf Simons wrote:
Nun ja, Jürgen -
nur an den Fragen, die ich gestellt haben wollte, geht das vorbei: Wie
können wir verhindern, dass Wissenschaftler, wenn sie bei uns schreiben,
eine bestimmte Arbeitsleistung effektiv für sich selbst unbrauchbar machen?
Deine Geschichte hat mich sehr betroffen gemacht, weil es auch unsere
ungutes Gefühl als WissenschaftlerInnen sehr pointiert darstellt. Darf
man "irgendwie" mit der Wikipedia zu tun haben? Was oberflächlich
als Abkupferei aus der WP aussieht, wird auch als solches angenommen.
Ich sehe mich selber in Berufungsvorträge, wo ich parallel den WP-
Artikel zum Thema laufen lasse und mich über die Übereinstimmungen
(teilweise textident!) amüsiere. Noch keiner ist dann bei uns Prof
geworden, aber ich muss schon sagen, dass ich nicht kontrolliert habe,
ob der Vortragende auch einer der WP-Autoren vom Artikel war. Mea culpa.
Die Leistung in einem Artikel wie [[Roman]] oder
[[Aufklärung]] ist es, mit breiter Lektüre Linien durch ein unwegsames
Gelände zu legen, Aspekte konsistenter in den Blick zu nehmen, im
Artikel Fragen aufzuwerfen und sie dann auch zu verfolgen.
Eine wunderbare Zusammenfassung von das, was wir machen. Es gibt nämlich
nicht der eine Wahrheit, den wir nur mit geeigneten Taschenlampen
suchen müssen. Sondern wir lichten den Dschungel, stellen Fragen,
stellen in Frage, ordnen.
Ich könnte natürlich in der
''Enzyklopädie der frühen Neuzeit'' in einer Fußnote vermelden, dass ich
das alles ausführlicher in Wikipedia sagte, auch eine Art Selbstmord.
Ich denke, da sollten wir mutiger sein und uns als Wikipedia-Autoren zu
erkennen geben. Aber das sage ich so leicht aus der Professoren-
Perspektive heraus. Auch wenn man mich schräg findet, weil ich mich mit
der WP ein wenig beschäftige, können sie mir nichts. Nur das Problem
ist, dass wir dann eine Hierarchie evtl einführen ("aus berufenen
Munde" hat irgend ein Journalist einer meine Beiträge in der
Relevanzdebatte geschmückt. Ich finde dass das, *was* gesagt wird,
wichtiger ist, als *wer* es sagt). Das wird eine andere Wikipedia.
Ich kenne Wissenschaftler die anonym beigetragen haben - und deren
Beiträge (teilweise mit persönlichen Attacken versehen) wieder
gelöscht worden sind. Da verliert man schnell die Lust, Zeit zu
investieren. Klar, wir streiten uns dauernd wissenschaftlich. Aber
die gedruckte Streitgespräche sind noch nachvollziebar, nicht nur
für Spezialisten, die aus den Untiefen der Historie (oder mit
WikiBlame [1]) herauskritzeln kann, wer was gesagt hat. Das zählt
auch zu wissenschaftlichen Meriten (=Veröffentlichungen), die WP-
Edits gehen sang- und klanglos unter.
Ich weiß auf diese Frage ehrlich gesagt keine gute
Antwort.
Ich auch nicht, aber ich begrüße sehr diese öffentlicher Diskussion!
Und es betrifft nicht nur WP sondern vielen der anderen Wikiprojekte,
wobei ich denke, es könnte bei Wiktionary und Wikiquote anders sein
könnte, aber da treibe ich mich zu wenig rum, um es zu beurteilen.
Dass wir Autoren von Artikeln benennen, ist nicht
unser Ziel. Und das
bringt mich zu dem von uns allen zur Kenntnis genommenen Paradox: Die
Zedler-Medaille bricht mit unserer gesamten Selbstdefionition des
kollektiven Lexikons: da steht plötzlich einer als Hauptautor im Raum,
kassiert den Preis ab, gibt vielleicht gar sein Pseudonym dafür preis
oder wir eiern drumherum - er kriegt ein Photo aber keinen bürgerlichen
Namen... Unsägliches wird dabei zu der heimlichen Elite von Wikipedia
dem anwesenden Publikum eröffnet, dem wir plötzlich erklären, dass
unsere besten Artikel nur von jeweils einem Autor stammen (ich war auf
der Veranstaltung).
Genau!! Es waren viele an diesen Artikeln beteiligt! Ich fände es
besser, eine Institution zu prämieren, die am meisten für freies Wissen
getan hat im vergangene Jahr. Der Bundesarchiv ist mein Favorit hier
(die Bilder sind göttlich, habe sie schon öfters für Präsentationen
verwendet, das kommt sehr gut an!). Aber hier in der "Grosse
*Un*vollständige Universal-Lexicon Aller Wissenschafften und Künste",
was kollektiv erstellt wird, finde ich der Auszeichung einzelne
Personen komisch.
Ganz davon abgesehen, dass ein prämierter Artikel "Dagobert Duck" bei
viele KollegInnen nur Heiterkeit hervorlockt... (Ja, Henriette, ich
weiss, man kann viel literarische, künstlerische und soziologische
Forschung zu diesen Thema machen ;)
Spaßig finden sie meinen Spaß daran im selben Moment,
da sie alle WP benutzen. Mir gibt das zu denken, dass ich meine eigenen
Kollegen, die täglich WP nutzen, nicht gewinnen kann.
Yup. Aber heimlich, da sollte kein Student zuschauen, keiner mitkriegen,
dass ich das nutze. Ich würde behaupten, dass es inzwischen mehr
Aufrufe der WP von Hochschulen gibt, als Pornografie oder
eBay-Kleinanzeigen. Da habe ich aber kein aktuelles, statistisches
Material [2].
Kompass 2020 ist da blumig mit einer
netten Prozentangabe für Akademiker. [...] Im Moment sind Studenten mit
wissenschaftlichen Ambitionen unsere Traumautoren - alles andere ist
unrealistisch gedacht.
Yes. Das muss nicht schlimm sein, aber Studenten überblicken oft nicht
die Tragweite von manchem, und schreiben arg verkürzt. Oder sie geben
die Weisheit der Vorlesungen, gefiltert durch Ablenkungen, in der WP
ein. Bei Informatik-Themen kräuselt es durchaus gelegentlich die
Zehnägel, was da steht. Das sehe ich immer, wenn plagiierende Studenten
irgendwelchen Mist einreichen. Ich kontrolliere den WP-Eintrag, und
versuch das schlimmste zu tilgen....
Denkbar eine farbig unterlegte Sektion Allgemeinwissen
und eine
wissenschaftliche Sektion - das mag vor allem nach außen signalisieren,
dass wir uns jetzt nicht mehr als Allgemeinlexikon für Oma, sondern als
Oma und
Opa ;)
Finde ich aber ein guter Vorschlag. Mich nerven diese Lemmata mit
Hausarbeit-Länge, wenn ich nur nach ein paar Kleinigkeiten suche. Oft
helfen die Info-Boxen, aber vieles geht in den wissenschaftlichen
Beiwerk unter.
Ich sage es eher als Denkanstoß dazu, wohin
Entwicklungen theoretisch laufen könnten. Ich hätte da gerne ein
klareres Nachdenken über die WP von morgen. Möglich ist ein Nachdenken
mit Modellen, gegen die wir uns entscheiden, aber die wir benennbar
durchdacht haben...
Gruß,
Olaf
Vielen Dank für diesen Denkanstoß! Die Diskussion geht weiter!
[1]
http://wikipedia.ramselehof.de/wikiblame.php
[2] Als ich das mal wagte, auszuwerten, was die meisten MB ausmachte,
waren 8 der topp 10 Sites mit, um, fragwürdigem wissenschaftlichen
Inhalt. Heute würde ich denken, dass der Alexa-Ranking in etwa gilt:
1. Google, 2. Facebook, 3. Youtube, 4. Yahoo, 5. Live, 6. Baidu, 7.
Wikipedia, 8. Blogger, 9. MSN, 10. Tencent, 11. Twitter. Nur Baidu
wird wenig an meiner Hochschule konsultiert.
--
WiseWoman, aka
Prof. Dr. Debora Weber-Wulff