Hallo allerseits,
meinen Mann ist Historiker und Mitglied in einer Mailingliste
für historische und soziale Fragestellungen. Hier eine sehr
kritische Rezension, der kürzlich versendet wurde. Aber
PatrickD und nichtich werden ganz doll gelobt :-)
Lang, aber interessant. Es ist auch unter
http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/id=6561&type=rezcdr…
erhältlich.
Schöne Grüße,
--- Weitergeleitete Nachricht ---
Von: "HSK (Christoph Schaefer)" <hsk.mail(a)GESCHICHTE.HU-BERLIN.DE>
An: H-SOZ-U-KULT(a)H-NET.MSU.EDU
Betreff: Rez. digital: Wikipedia
Datum: Wed, 6 Jul 2005 18:38:05 +0200
From: Björn Hoffmann <bjoern.hoffmann(a)universalbibliothek.de>
Date: 28.04.2005
Subject: Rez. digital: Wikipedia
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Wikipedia Deutschland (Hrsg.): Wikipedia Frühjahr 2005 (DVD-ROM). Die
freie Enzyklopädie. Berlin: Directmedia Publishing 2005. ISBN
3-89853-020-5; 1 DVD-ROM; EUR 9,90.
Rezensiert für H-Soz-u-Kult von:
Bjoern Hoffmann, M.A., Mannheim
E-Mail: <bjoern.hoffmann(a)universalbibliothek.de>
Der Berliner Spezialist für digitalisierte elektronische Bücher
Directmedia [1], der sich vor allem mit der Herausgabe älterer, z. T.
vergriffener Bücher und Reihen im Rahmen der sogenannten Digitalen
Bibliothek einen Namen gemacht hat, darunter etwa ein Sammelband zur
deutschen Literatur von Lessing bis Kafka, ausgewählte Werke von Marx
und Weber, die Propyläen Weltgeschichte oder zuletzt die 36 Bände der
Fischer Weltgeschichte [2], zeigt mit seinem jüngsten Engagement für die
freie Enzyklopädie Wikipedia sein Interesse, das Verlagsprogramm auch
auf aktuelle Titel auszudehnen.
Directmedia hat mit der DVD-Version 2005 [3] nun schon die 2. Ausgabe
der sonst nur im Internet verfügbaren Wikipedia-Enzyklopädie [4] nach
einer CD-ROM-Version [5] vom Herbst 2004 auf digitalem Datenträger
vorgelegt. War die ursprüngliche Intention des Verlages mit der nur 3
Euro teuren und als Sonderband bezeichneten CD-ROM den Versionswechsel
der an sich kostenlosen Anzeigesoftware von Version 3 auf Version 4
bekannt zu machen, durch den die Software nun ein echtes
Bibliothekskonzept für alle weit über 100 Bände der Digitalen Bibliothek
verfolgt und auch unter anderen Betriebssystemen nutzbar ist, hat sich
die Strategie der Berliner mit der Erhöhung des Preises auf 9,90 Euro
anscheinend etwas gewandelt. Zwei Euro des Verkaufspreises gehen zwar an
die amerikanische Wikimedia Foundation [6] als Hoster der Wikipedia, die
im Gegenzug den mittlerweile im Internet bekannten Namen [7] zur
Verfügung stellt, die Wahrnehmung im Buchhandel einer fast 10 Euro
teuren DVD dürfte jedoch eine ganz andere als die einer faktisch nur mit
einer Schutzgebühr belegten Version sein. Die Wikipedia ist zu einem
Produkt geworden, eine Rezension und Überprüfung der freien Inhalte
unter wissenschaftlichen Gesichtspunkten scheint geboten.
Das Konzept der freien Enzyklopädie, das durch eine enorme
Aufmerksamkeit vor allem im Internet durch die gute Verlinkungsstruktur
und den hohen Pagerank bei sehr vielen Suchanfragen etwa in Google
begünstigt und durch eine umfassende Berichterstattung in der Presse
begleitet wird [8], wurde an anderer Stelle bereits ausführlich
beschrieben. Hier sei auf den Überblicksartikel der beiden Wikipedianer
Patrick Danowski und Jakob Voss hingewiesen, der kürzlich im Open Source
Jahrbuch 2005 [9] erschienen ist, und neben den üblichen Argumenten für
eine freie Enzyklopädie auch auf die nicht unwesentlichen Probleme und
Schwierigkeiten eingeht.
Wie wertvoll ist nun die Wikipedia-DVD für die Geisteswissenschaften, an
der Wissenschaftler und engagierte Laien zu gleichen Teilen und quasi
gleichberechtigt im Internet mitschreiben können? Dieser Frage soll im
Folgenden anhand einiger, mehr oder weniger zufällig ausgewählter
Beispiele aus der Geschichtswissenschaft, in denen sich der Rezensent
auskennt, nachgegangen werden.
Beispiel Historikerstreit: Der Artikel der freien Enzyklopädie enthält
neben einigen Zitaten aus der Dokumentation der Kontroverse, die den
Gehalt der Auseinandersetzung um die Thesen Ernst Noltes verdeutlichen
sollen, im wesentlichen eine Definition und eine Würdigung der
Kontroverse aus heutiger Sicht. Die Definition des Streits geht dabei an
dem Kern der Debatte weitgehend vorbei, da die von Habermas vor allem
kritisierten Teile von Noltes Thesen von Auschwitz als Reaktion auf eine
vorgelagerte asiatische Tat im Osten zwar in den Zitaten auftauchen,
aber in keiner Weise erläutert oder gar bewertend eingeordnet werden.
Die Würdigung aus heutiger Sicht bleibt überdies vollständig
unverständlich, wenn es dort heißt: „Aus heutiger Sicht liest sich
vieles, was im "Historikerstreit" diskutiert wurde, als die Ouvertüre zu
den Debatten um den Einsatz der deutschen Bundeswehr in Krisengebieten
weltweit.“[10]
Beispiel Investiturstreit: Der Artikel wirkt auf den ersten Blick
solider, was man an der Strukturierung des Textes erkennt. Doch schnell
wird ersichtlich, dass der Text im besten Fall noch nicht fertig ist.
Weder wird hier die europäische Dimension des Konfliktes deutlich, noch
wird auf die Überwindung des Streites (Ivo von Chartres) hinreichend
eingegangen. Der Gang nach Canossa durch Heinrich IV dagegen wird
ausführlich behandelt, wodurch der Eindruck erweckt wird, dass in
Canossa die Investitur behandelt wurde. Unklar bleibt auch die Dimension
des Streites, der hier nur als ein reiner Machtkonflikt zwischen Papst
und Königtum um die Einsetzung von Bischöfen erscheint, nicht aber als
ein grundsätzlicher Konflikt, der die Grundfeste des salisch-ottonischen
Herrschaftssystems erschütterte. Auch die Wirkung des Streites auf die
deutsche Geschichte bleibt im Dunkeln, jeder Hinweis auf die durch die
Lösung des Investiturstreits eingeleitete Territorialisierung des
Deutschen Reiches fehlt. Die Wikipedia geht über historisierende
Beschreibungen im Stile einer Personengeschichte selten hinaus.[11]
Beispiel Merkantilismus: Waren die beiden ersten Stichproben zumindest
nicht grob falsch, kann man das von vielen Formulierungen des Artikels
zum Merkantilismus nicht mehr behaupten, der Merkantilismus wird hier
als „vorherrschendes Wirtschaftssystem im Zeitalter des Absolutismus“
bezeichnet, der „die mittelalterliche Zunft- und Stadtwirtschaft“
abgelöst habe, als bedeutendster Vertreter wird Jean-Baptiste Colbert
bezeichnet. [12] Hier wird der Eindruck erweckt, dass es sich beim
Merkantilismus um ein einheitliches Wirtschaftssystem gehandelt habe,
dessen wirtschaftstheoretischen Grundpfeiler von einem französischen
Staatsbeamten gelegt worden sei. Das Gegenteil ist der Fall und in der
historischen Forschung besteht darin auch kein Zweifel, dass der Begriff
des Merkantilismus letztlich nur sehr unterschiedliche
praktisch-wirtschaftspolitische Maßnahmen in Europa bezeichnen kann, die
gerade keiner einheitlichen Linie folgten. Die Bewertung am Ende des
Textes zeigt zudem, dass der Artikel eher zur Verschleierung des
merkantilen Wesens als zu seiner Erhellung beiträgt: „Adam Smiths Werk
Wohlstand der Nationen und die französische Revolution machten letztlich
dem Merkantilismus ein Ende und bereiteten den Weg für den
Liberalismus.“[13]
Erschwerend für das Verständnis bleiben auch die formalen Mängel der
Texte, wenn das Tempus der Darstellung wechselt (Investiturstreit), neue
und alte Rechtschreibung munter durcheinander gehen (besonders z. B. im
Artikel Goethe) oder keine Einheitlichkeit im Umgang mit Verlinkungen
besteht. So werden häufig Verlinkungen völlig ohne sinntragende Funktion
gesetzt, wenn beispielsweise bei einem französischen Politiker ein Link
zu Frankreich gesetzt wird.
Fazit: Die drei von dem Rezensenten aus den mittlerweile über 200.000
Artikeln willkürlich herangezogenen Begriffe haben schwerwiegende Mängel
gezeigt, sowohl was die inhaltliche Qualität, aber auch was die formale
Umsetzung betrifft. Zwar hat die Wikipedia als kollaborativ angelegte
Enzyklopädie keinesfalls den Anspruch, fertig oder vollständig zu sein,
von einem Lexikon aber, das man käuflich erworben hat, und sei es nur
für 10 Euro, erwartet man zurecht auch, dass es zumindest keine allzu
groben Fehler enthält. Das kann von den hier intensiv betrachteten
Artikeln jedenfalls nicht behauptet werden, wobei die Stichprobe von
drei Artikeln natürlich nicht ausreichend sein kann, um die Qualität der
gesamten Anwendung zu beurteilen. Als Nachschlagewerk im
wissenschaftlichen Umfeld ist unter dieser Einschränkung die
Wikipedia-DVD nur unter Vorbehalt einer weiteren gründlichen Prüfung der
Fakten nutzbar, da grundlegende Aussagen, Bewertungen und Einschätzungen
noch gründlicher hinterfragt werden müssen als bei etablierten
Nachschlagewerken der Geschichtswissenschaft mit einem die Qualität
sichernden Peer-Reviewing-Prozess und einem Herausgebergremium wie dem
Lexikon des Mittelalters oder dem kleinen Pauly.
Dennoch ist die Wikipedia ein interessantes Projekt, das die Idee der
wissenschaftlichen Allmende sehr konsequent umgesetzt hat und in einer
beachtlichen Zeit eine Enzyklopädie in kollaborativer Arbeit erstellt
hat, dass man nur staunen kann. Zudem ist das Potenzial der Wikipedia
durch seine Hypertextstruktur und durch seine rein digitale
Erscheinungsform im Prinzip unbegrenzt.
Zu einer brauchbaren Textqualität zumindest im geisteswissenschaftlichen
Umfeld scheint allerdings noch ein weiter Weg zu sein, der Einsatz im
universitären Umfeld ist nur dann anzuraten, wenn man zugleich die Mühe
und Zeit auf sich nehmen möchte und kann, die Fehler und Ungenauigkeiten
der Textsubstanz gleich auszubessern, wobei hier das Internet der DVD
natürlich vorzuziehen ist, da man die Änderungen nur online anbringen
kann. Der Dank der Wikipedia Gemeinschaft dürfte einem dann freilich
sicher sein.
Anmerkungen:
[1] Vgl. <http://www.digitale-bibliothek.de/> (20.04.2005).
[2] Einen Überblick zu wissenschaftlichen Rezensionen dazu unter:
<http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/type=rezcdrom>
(20.04.2005).
[3] Vgl. <http://de.wikipedia.org/wiki/Wikipedia:Wikipedia-Distribution>
(20.04.2005).
[4] Die deutsche Version: <http://de.wikipedia.org/wiki/Hauptseite>
(20.04.2005).
[5] Vgl. <http://de.wikipedia.org/wiki/Wikipedia:Wikipedia-CD>
(20.04.2005).
[6] Vgl. <http://wikimediafoundation.org/wiki/Home> (20.04.2005).
[7] Nach Angabe von
alexca.com hat die Wikipedia längst sehr viel mehr
Zugriffe als etwa
britannica.com:
<http://www.alexa.com/data/details/traffic_details?&range=2y&size=large&compare_sites=britannica.com&y=t&url=www.wikipedia.org/#top>
(20.04.2005).
[8] Siehe hierzu den umfassenden Pressespiegel zur Wikipedia:
<http://de.wikipedia.org/wiki/Wikipedia:Pressespiegel> (20.04.2005).
[9]
Vgl.
<http://www.opensourcejahrbuch.de/2005/pdfs/OpenSourceJahrbuch2005_online.pdf>
(20.04.2005), hier: S. 393-408.
[10] Vgl. den Artikel „Historikerstreit“. DB Sonderband: Wikipedia
Frühjahr 2005, S. 201346.
[11] Vgl. den Artikel „Investiturstreit“ . DB Sonderband: Wikipedia
Frühjahr 2005, S. 216835.
[12] Vgl. den Artikel „Merkantilismus“. DB Sonderband: Wikipedia
Frühjahr 2005, S. 294470.
[13] Vgl. den Artikel „Merkantilismus“. DB Sonderband: Wikipedia
Frühjahr 2005, S. 294471.
Diese Rezension wurde redaktionell betreut von:
Christoph Schäfer <schaefer.h-soz-u-kult(a)gmx.de>
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