[Wikide-l] Lehren aus einem Rechtsstreit

Thomas Hochstein ml at ancalagon.inka.de
Mi Feb 22 21:03:33 UTC 2006


"Agon S. Buchholz" schrieb:

> Obwohl meine Website ziemlich
> offensichtlich eine private Homepage und definitiv kein "Handelsblatt
> Online" ist, wählte das Bremer Unternehmen den Weg der Abmahnung ohne
> jegliche Vorwarnung oder Versuch der Kontaktaufnahme, zielte also von
> Anfang an auf die maximal mögliche Konfrontation ab.

(Nicht nur) das ist eine sehr einseitige Darstellung der Sachlage, die
sich durch Deinen ganzen Bericht zieht. Es läßt sich nicht erkennen,
was genau der Grund für die Abmahnung war; man kann nur vermuten, daß
Du eine - falsche oder jedenfalls nicht beweisbare - negative Aussage
über das Unternehmen getroffen hast.

Wenn jemand etwas negatives über Dich behauptet, ist es durchaus
angemessen und hat nichts mit "maximal möglicher Konfrontation" zu
tun, diesen jenigen aufzufordern, das zu unterlassen; und wenn man
sich nicht damit auskennt oder einfach etwas besseres zu tun hat, dann
beauftragt man damit eben jemand. Es mag nett sein, das vorher nochmal
auf der persönlichen Schiene zu versuchen; andererseits kann man
spätestens seit Anbruch des Internet-Zeitalters zumindest ab einer
gewissen Bedeutung der Firma damit mühelos seinen Arbeitstag
verbringen. ;) Vor allem ist das nahezu immer bestenfalls erfolglos,
schlimmstenfalls hoch ärgerlich, weil man regelmäßig auf eine Mischung
aus Ignoranz, Sendungsbewußtsein und Frechheit trifft. Man läßt sich
doch nicht den Mund verbieten! Was will der Typ eigentlich? Und wenn
er es Ernst meinen würde oder sich seiner Sache sicher wäre, dann
hätte er schließlich einen Anwalt beauftragt!

(Ich habe in zwei Fällen selbst dreiste Kopien einer Publikation
gefunden, die zu allem Überfluß "frei" -im weiteren Sinne- verfügbar
war; einzige Einschränkung war "Namensnennung" und "nicht
kommerziell". Allerdings hat man den Namen lieber gegen den eigenen
ausgetauscht. Unrechtsbewußtsein? Null. - In einer Vielzahl von Fällen
durfte ich die Reaktion bei Beschwerden über das "Ausborgen" von
Bildern verfolgen. Ähnlich.)

> Das Gericht setzte einen Verhandlungstermin an, der auf Betreiben der
> Gegenseite verschoben wurde, und aus uns unbekannten Gründen wechselte
> bei der Gelegenheit auch der Richter.

Versetzung, Ruhestand, Abordnung, es war ein Richter auf Probe, der
idR im Jahresrhythmus versezt wird ... Das ist Alltag.

> Das Vergleichsangebot war aus verschiedenen Gründen unannehmbar und
> erschien - zumindest mir - offensichtlich absurd; u.a. sollte ich 
> jegliche Nennungen des Bremer Unternehmens in einem bestimmten Kontext 
> aus sämtlichen Suchmaschinen der Welt <sic!> entfernen und mich bei 
> einer Vertragsstrafe von 10.000 Euro "unter Verzicht auf die Berufung 
> auf den Fortsetzungszusammenhang" verpflichten, dass beispielsweise nie
> "Informationen/Daten" über das betreffende Unternehmen in die Wikipedia
> <sic!> gelangen würden; der Text des Vergleichsangebots enthält noch
> weitere ähnlich bizarre Verpflichtungen.

Erkennbar unsinnig und von jemandem verfaßt, dem "das Internet" fremd
ist, ack.

> * [Sittenwidrigkeit] Die Abmahnung einer Privatperson [erkennbar aus
> Impressum der Website] mit einem Gegenstandswert von 500.000 Euro ist
> nicht sittenwidrig [kein Kommentar]

Du scheinst Dir eine völlig falsche Vorstellung über die Bestimmung
des Gegenstandswertes zu machen (weil Du so betonst, daß es um eine
Privatperson geht). Der Gegenstandswert hat mit dem Interesse des
Klägers an der Unterlassung zu tun, nicht aber mit den finanziellen
Möglichkeiten des Beklagten. Und für das Interesse an der Unterlassung
ist vollkommen gleichgültig, ob es sich um eine Privatperson oder
einen Weltkonzern handelt; relevant dürfte vielmehr der "Impact" sein
(AOL-Homepage, die außer Schwester, Bruder und Hund niemand liest,
oder privates Blog mit zigtausend Hits pro Tag? - Verbreitung nur am
schwarzen Brett des örtlichen Supermarkts, in der örtlichen
Tageszeitung, deutschlandweit oder gar weltweit im Internet?), aber
auch der Inhalt und dessen geschäftsschädigendes Potential usw. usf.

Die obige Aussage ist insofern völlig richtig. (Damit ist nicht
gesagt, daß der Gegenstandswert in Deinem Fall korrekt bestimmt
wurde.)

> * [Gerichtsstand] Der Gerichtsstand ist dort, wo das Internet abgerufen
> werden kann (nicht der Wohnsitz des Beklagten) [das ist ein bekanntes
> Problem des Internetrechts, das aber wohl den aktuellen Stand der
> Rechtsprechung widerspiegelt; ich verstehe das allerdings nicht; wenn
> ich auf Mallorca eine FAZ aus dem "Internationale-Press"-Kiosk kaufe,
> ist der Gerichtsstand ja auch nicht Mallorca, nur weil ich die Zeitung
> dort kaufen konnte].

Der Gerichtsstand der unerlaubten Handlung ist dort, wo sie begangen
wird; und das ist bei einer bundesweit abrufbaren Publikation -
natürlich - bundesweit. Ich verstehe nicht, was man daran nicht
verstehen kann. ;)

> * [potentieller Schaden] Es ist ohne Belang ob ein Schaden entstanden
> ist; es reicht die Möglichkeit, dass ein Schaden hätte entstehen können
> <sic!>; daher ist auch unerheblich, ob die Aussage im Internet
> tatsächlich gelesen wurde; entscheidend ist vielmehr die Möglichkeit,
> dass sie hätte gelesen werden können <sic!> [kann ich nicht
> nachvollziehen; jeder PKW kann "potentiell Schaden" verursachen,
> trotzdem wird niemand angezeigt, nur weil er einen PKW fährt].

Das mag tatsächlich etwas schwer verständlich sein; andererseits kann
es kaum den Schädiger entschuldigen, wenn sein Schädigungsversuch
daneben gegangen ist ... (und es würde dem Geschädigten die Beweislast
dafür aufbürden, daß die Aussage tatsächlich faßbaren Schaden
verursacht hat; das halte ich im Falle einer Unterlassungsaufforderung
für überzogen).

> * [Kommerzielle/nichtkommerzielle Motivation] Unerheblich ist, ob eine
> Website "aus Liebhaberei" oder "aus wirtschaftlichen Interessen"
> betrieben wird [für mich ebenfalls nicht nachvollziehbar; demnach würde
> an ein gemeinnütziges Projekt von Freiwilligen dieselben Anforderungen
> in Bezug auf kostenintensive Recherchen gestellt werden, wie sie bei
> einem bezahlten Profi-Journalisten mit Reisebudget etc. üblich sind].

Natürlich. Es ist dem Geschädigten doch zu Recht völlig gleichgültig,
ob ihn jemand aus Liebhaberei oder aus finanziellen Interessen
schlechtmacht und verleumdet. Entscheidend ist, *daß* das geschieht.
Wenn jemand freiwillig und gemeinnützig anderen Schaden zufügt,
rechtfertigt ihn das nicht. Es wird Dir vermutlich auch gleichgültig
sein, ob der Arzt, der Dich im Katastrophenfall verstümmelt, dort als
hauptamtlich beschäftigter Notarzt tätig war oder ehrenamtlich im
Rahmen des Katastrophenschutzes - entscheidend wird Dir sein, daß Du
beide Beine verloren hast, weil er einen Fehler machte.

Niemand ist gezwungen, gemeinnützig und freiwillig etwas Schlechtes
über andere zu behaupten. Wenn er das aber tut, dann ist es seine
verdammte Pflicht und Schuldigkeit, sich vorher zu vergewissern (!),
daß das auch die Wahrheit ist. Wenn er das nicht will oder nicht kann,
dann darf er eben nicht - weltweit! - jemand schlechtreden. Zur
Meinungsfreiheit gehört die Verantwortung untrennbar dazu.

> * [Kontext] Unerheblich ist auch der Kontext, in dem die Aussage
> veröffentlicht wird [für mich überhaupt nicht nachvollziehbar;

Stimmt. So, wie Du das schreibst, ist mir das auch nicht
nachvollziehbar.

> * [Sorgfaltspflichten] Auch "von einem hobbymäßigen Betreiber einer
> Internetseite" kann gefordert werden, eine Recherche nach
> journalistischem Anspruch zu betreiben; im konkreten Fall reichte die
> Auskunft eines Mitarbeiters aus einem Nachfolgeunternehmen
> beispielsweise nicht aus

Diese Ansicht teile ich.

> [gängige journalistische Mindestanforderung
> sind m.W. zwei unabhängige Quellen für problematische
> Tatsachenbehauptungen; da natürlich in dem Urteil nicht spezifiziert
> wird, welche Prüfungen für Website-Betreiber ausreichend wären, würe 
> eine solche Rechtsauffassung das faktische K.O. für Blogs und Foren 
> bedeuten, wo häufig über Gerüchte diskutiert wird;

Das Verbreiten von Gerüchten ist eine Schweinerei - denn Rufmord ist
so einfach, und "irgendetwas bleibt immer hängen". Daher tut man so
etwas einfach nicht; und schon hat man kein Problem mehr, weder
moralisch, noch rechtlich.

> diese undifferenzierte Auffassung würde also 
> auch ein gravierendes Problem für andere Formen des Bürgerjournalismus 
> darstellen].

Wenn "Bürgerjournalismus" bedeutet, ohne ausreichende Prüfung negative
Äußerungen über andere weltweit zu verbreiten, dann kann man nur
hoffen, daß die Probleme dafür möglichst bald und möglichst gravierend
auftreten.

Wer sich in eine Position der Meinungsbildung begibt, hat eine
Verantwortung, die er wahrnehmen muß.

> Ich habe als Nichtjurist keine ausreichend fundierte Vorstellung, ob
> solche Aussagen repräsentativ sind für deutsche Gerichte, oder ob ich
> einfach nur Pech mit der (zweiten) Richterin hatte;

Das kann ich Dir ohne genaue Kenntnis der Einzelheiten auch nicht
sagen. :)

> ich kann auch nicht
> beurteilen, ob der Betreiber einer Website tatsächlich - wie hier
> behauptet - uneingeschränkt haftbar ist für beliebige Inhalte, die über
> seine Website abrufbar sind; beispielsweise dachte ich bisher, dass der
> Betreiber für Inhalte von Foren erst nach Kenntnisnahme haftet, aber das
> mag nicht mehr Stand der Rechtsprechung sein.

Doch, das ist korrekt.

> Angesichts der
> Urteilsbegründung habe ich aber mittlerweile massive Zweifel, ob man bei
> solchen Rahmenbedingungen noch eine umfangreiche und relativ offene
> Website betreiben kann, ohne sich existentiell zu gefährden.

| Zum weisen Sokrates kam einer gelaufen und sagte: "Höre Sokrates, das
| muß ich Dir erzählen!" - "Halte ein!", unterbrach ihn der Weise, "hast
| Du das, was Du mir sagen willst, durch die drei Siebe gesiebt?" -
| "Drei Siebe?", frage der andere voller Verwunderung.
|
| "Ja, guter Freund! Laß sehen, ob das, was Du mir sagen willst, durch
| die drei Siebe hindurchgeht: Das erste ist die Wahrheit. Hast Du
| alles, was Du mir erzählen willst, geprüft, ob es wahr ist?" - " Nein,
| ich hörte es erzählen und ..."
|
| "Soso. Aber sicher hast Du es im zweiten Sieb geprüft. Es ist das Sieb
| der Güte. Ist das, was Du mir erzählen willst, gut?" Zögernd sagte der
| andere: "Nein, im Gegenteil..."
|
| "Hm...", unterbracht ihn der Weise, "so laß uns auch das dritte Sieb
| noch anwenden. Ist es notwendig, daß Du mir das erzählst?" "Notwendig
| nun gerade nicht..." "Also", sagte lächelnd der Weise, "wenn es weder
| wahr noch gut noch notwendig ist, so laß es begraben sein und belaste
| Dich und mich nicht damit. "

Schreibe nur dann etwas Schlechtes über andere, wenn Du Dir *sicher*
sein kannst, daß es wahr ist. Das sollte Dir ohnehin Richtschnur sein;
und es schützt Dich auch in rechtlicher Hinsicht.

> In der Wikipedia war ich immer ein erklärter Gegner von
> Zugriffsbeschränkungen und Restriktionen; ich halte es noch immer
> prinzipiell für sinnvoll und wichtig, anonyme Edits zuzulassen, glaube
> aber nach diesem Urteil, dass man wohl von niemandem erwarten kann, den
> Preis für diese Freiheiten zu zahlen.

Ja, den Preis der Freiheit zahlt niemand gern.

Wieviel einfacher ist es doch, wenn man schreiben kann, was man will,
und über die Folgen für andere mit einem Schulterzucken hinweg gehen
kann ...

> Bemerkenswert für mich persönlich und auch vollkommen überraschend war,
> dass das Gericht meine "wirtschaftliche Situation" vollkommen ignoriert;

Nicht das Gericht - das Gesetz. Völlig zu Recht im übrigen.

Du hast etwas Schlechtes über jemand anderen geschrieben. Dieser hatte
einen Schaden. Jetzt mußte er einen Anwalt beauftragen. Und mußte ihn
bezahlen. Dann mußte er einen Prozeß führen, dazu die Prozeßkosten
vorlegen - all das, ohne etwas falsches getan zu haben! -, während Du
auf Kosten der Allgemeinheit Deinen Rechtsstreit führst, obwohl Du
derjenige warst, der etwas falsches getan hat.

Und jetzt soll man nach alledem noch Rücksicht auf Deine
wirtschaftliche Situation nehmen?

(Schulden sind grundsätzlich immer sofort fällig. Nicht nur in diesem
Fall, in jedem. Dein Prozeßgegner ist natürlich nicht gehindert, mit
Dir eine Ratenzahlungsvereinbarung zu treffen - aber er muß es nicht.)

> der volle Betrag "nebst Zinsen i.H.v. 5 Prozentpunkten über dem
> Basiszinssatz seit dem 10.04.2005" ist sofort und vollständig zu
> bezahlen - oder wird per Zwangsvollstreckung (!) eingetrieben.

Sicher. Was dachtest Du?

> ich hatte die Verteidigung mit PkH führen müssen
> (was auch geprüft und genehmigt worden ist) und daher damit gerechnet,
> dass ich im schlimmsten Fall den Betrag in einigen Monatsraten
> aufbringen müßte.

Das ist - bestenfalls - arg blauäugig.

> Wenn das "Recht" sein soll, müßte man möglicherweise
> bereits bei einer durchschnittlichen Schadensersatzklage damit rechnen,
> dass der Serverpark einfach weggepfändet wird - zumindest wenn es nicht
> schnell genug gelingt, genug Spenden aufzubringen ("Das Urteil ist gegen 
> Sicherheitsleistung in Höhe von 110% des zu vollstreckenden Betrages 
> vorläufig vollstreckbar" - das heißt der Kläger kann den vollen Betrag 
> sofort, also auch dann, wenn das Urteil noch nicht (!) rechtskräftig 
> ist, vollstrecken lassen, wenn er die Sicherheitsleistung bezahlt).

Richtig. Macht aber nichts, denn im Falle, daß das Urteil revidiert
wird, muß er Schadensersatz leisten (weshalb idR eben nicht sofort
vollstreckt wird), und dafür steht die hinterlegte Sicherheit bereit,
die aus eben diesem Grund mehr als 100 % beträgt.

> Wie dem auch sei, für mich ist diese Erfahrung jedenfalls mehr als
> ernüchternd, was deutsches Recht und deutsche Richter angeht.

Grundlos - bzw. nur aufgrund einer sehr, sehr einseitigen Sicht der
Angelegenheit.

> Ich möchte
> daher mal meine Hochachtung für Kurt, Arne und den Rest des Vorstandes
> von Wikimedia Deutschland aussprechen, die letztlich dann doch ihren
> Kopf für den Rest der Community in diesem Land hinhalten müssen!

Wieso? Ich sehe bisher nicht, daß (a) Wikimedia Deutschland die
inhaltliche Verantwortung für das Angebot der Wikimedia Foundation
trägt und (b) der Vorstand für die Verbindlichkeiten des Vereins
persönlich haften würde.

-thh

PS: Es tut mir leid, daß Du das Pech hattest, in dieser Weise in die
Schußlinie zu geraten, und daß Deine Webseite solche gravierenden
Konsequenzen hatte. Ich kann auch verstehen, daß Dich das verärgert,
enttäuscht, ja vielleicht sogar entsetzt. Dennoch kann ich Deine
Darstellung so nicht stehenlassen - weil sie symptomatisch für eine
sehr einseitige Sichtweise steht, die mir schon zu oft begegnet ist.
Ich will auch nicht sagen, daß die Entscheidung richtig ist (nach dem,
was ich gelesen habe, ist sie es allerdings vermutlich); aber die
meisten Deiner Einwürfe sind schlicht sachlich falsch.