Für die kleine und bedauerliche Minderheit unter uns, die die Zürcher
Sonntagszeitung heute morgen nicht in ihrem Briefkasten vorfand:
Sonntagszeitung, Seite 117, Zürich, den 26.9.2004
von Daniela Palumbo
Wissen soll frei und gratis sein
Wikipedia-Gründer Jimmy Wales über die Aufschaltung seiner
Online-Enzyklopädie in der Schweiz.
Jimmy Wales, was wissen Sie über die Schweiz?
Nichts. (lacht) Schokolade. Meine dreijährige Tochter bat mich, Schweizer
Schokolade mitzubringen.
Würden Sie Informationen zur Schweiz in der Wikipedia-Enzyklopädie suchen?
Ja, sie eignet sich als Überblick. Die englische Wikipedia ist schon größer
als die britische Enzyklopädie Britannica. In der deutschen Wikipedia dauert
es wahrscheinlich noch ein Jahr, bis wir so viele Artikel haben wie der
Brockhaus.
Diese Woche ging das viersprachige Schweizer Portal wikipedia.ch online. Die
Rumantsch-Version enthält nur drei Artikel. Das ist etwas wenig für eine
Enzyklopädie.
Je weniger Leute eine Sprache sprechen, desto langsamer geht es voran. Aber
rumantsch Sprechende, die ihre Sprache bewahren wollen, können Artikel aus
fremdsprachigen Wikipedias übersetzen, statt sie selber zu schreiben.
Aus welchem Antrieb haben Sie die Online-Enzyklopädie geschaffen?
Es existiert ein chinesisches Sprichwort: Gib einem Hungernden einen Fisch,
und er wird einen Tag lang satt; lehre ihn fischen, und er wird nie mehr
hungern. Eine traditionelle Enzyklopädie ist sehr teuer. Die Armen können
sich keine leisten. Sie enthält aber das gesamte Wissen unserer Welt. Dieses
Wissen soll frei und gratis sein.
Was meinen Sie mit frei?
Sie dürfen mit den Artikeln tun, was Sie wollen, und diese auch verändern.
Unsere Lizenz erlaubt dies im Gegensatz zu traditionellen Enzyklopädien mit
ihrem strengen Urheberrecht.
Wie wurde dieses Mammutprojekt möglich?
Durch die Software Wiki. Das ist eine Website, die jeder einfach und schnell
editieren kann. Das Tolle an Wikipedia ist, dass wie bei den
Free-Software-Projekten eine Gemeinschaft entstanden ist.
Tausende von Freiwilligen schreiben Wikipedia-Artikel ohne Entgelt Wer sind
diese Schreiberlinge?
Tendenziell intellektuelle Computerfreaks. Menschen wie ich. Auch viele
Universitätsabsolventen, Professoren und Fachleute. Ein Mathematikprofessor
etwa schreibt bei uns Artikel über den Zweiten Weltkrieg. Er lebt sein Hobby
in unserer Enzyklopädie aus. Das ist typisch für unsere Autoren.
Wikipedia wächst rasant. Vergangene Woche zählte sie eine Million Artikel.
Trotzdem wird im Internet heftig über die Qualität der Beiträge diskutiert.
Die Durchschnittsqualität der Artikel ist hoch. Wikipedia ist gut in den
Bereichen Computer, Technik, Geografie und Geschichte. Für bestimmte
Fachgebiete haben wir noch keine geeigneten Schreiber. Unsere Schwachstellen
sind Kunst und Philosophie.
Wie wollen Sie die Qualität steigern?
Wir sind gerade dabei, einen Qualitätsstandard zu entwickeln.
Artikelversionen, die auf Fakten und Grammatik geprüft wurden, sollen
zertifiziert werde Die Artikel lassen sich weiter verändern, aber die
anerkannte Version ist als solche gekennzeichnet.
Bleibt Wikipedia eine ewige Baustelle?
Ja, weil immer neue Informationen ans Tageslicht kommen. Aber wir arbeiten
gerade an einem Release 1. Dieser ist eine Momentaufnahme von Wikipedia, die
von Experten aus unserer Gemeinschaft überarbeitet wurde.
Gefährden Spammer, Vandalen und Ideologen die Online-Enzyklopädie?
Unsere Programmierer blockieren Spammer innert kurzer Zeit, und ein von
Vandalen zerstörter Artikel wird in fünf Minuten wieder hergestellt.
Und die Ideologen?
Da wird es schwierig. Wir hatten ein mal einen Mitarbeiter, der die
Deutschen hasste. Er änderte mehrmals alle Flüsse mit deutschem Namen an der
Grenze von Deutschland und Polen und gab ihnen polnische Namen. Nach,
unzähligen Diskussionen schlossen wir ihn aus der Gemeinschaft aus.
Sie haben den Untergang von traditionellen Enzyklopädien in fünf Jahren
prophezeit.
Die traditionellen Marken wie Brockhaus und Britannica werden überleben. Der
Name ist ein Qualitätszeichen, dem die Leute vertrauen. Wir werden ebenfalls
ein Qualitätsprodukt anbieten, aber zu viel tieferen Produktionskosten. Der
Brockhaus könnte etwa Wikipedia-Artikel beziehen und sie von ihren Experten
redigieren lassen. Das wäre billiger, als sie von den Experten schreiben zu
lassen.
Wie lange wird Wikipedia werbefrei bleiben?
Wir werden nie Werbung brauchen, um zu überleben. Der Unterhalt der Website
kostet wenig. Es ist einfach, Spendengelder zu finden, um die Website zu
verbessern und neue Server zu kaufen. Aber sollen wir in Zukunft Werbung
ablehnen, wenn wir mit dem Geld Gutes tun können? Wir machen nicht nur eine
Website. Wir wollen der Welt helfen. Diese Vision ist wichtig für unseren
Erfolg.
Wie wollen Sie der Welt helfen?
Unsere Organisation soll eine Art internationales Rotes Kreuz werden, das
freie, kulturelle Inhalte unterstützt. Ich arbeite mit afrikanischen NGOs
zusammen, um die Wikipedia-Artikel auch als Buch zu verbreiten. In 10 bis 20
Jahren sollen alle Menschen auf diesem Planeten eine Enzyklopädie besitzen.
Gratis.
Kasten: Unentgeltlich verfasst und für jeden Surfer zugänglich:
Der Amerikaner Jimmy Wales, 38, ist Gründer der erfolgreichen, mehrfach
prämierten Online-Enzyklopädie Wikipedia und Vorsitzende der Wikimedia
Foundation. Das von Tausenden von Freiwilligen unentgeltlich verfasste
Nachschlagewerk gibt es in über 100 Sprachen. Eine Besonderheit der
Online-Enzyklopädie ist, dass jeder Surfer die Artikel überarbeiten und
ergänzen kann. Die umfangreichsten Wikipedia-Versionen sind die englische
(350.000 Artikel), die deutsche (140.000) und die japanische (70.000).
Letzte Woche erreichte die gesamte Online-Enzyklopädie die Millionenmarke.
Seit einer Woche ist das Schweizer Portal
www.wikipedia.ch online. Ende 2005
soll die englische Wikipedia als Buch erscheinen. Ende Kasten.
Gruß Ilja
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