[ Subject angepasst ]
Erik Moeller wrote:
[ Brockhaus bietet mehr als nur gutes Marketing ]
Wohl wahr. Aber die Marke Brockhaus ist in erster
Linie das - eine
Marke, die durch gezieltes Marketing aufgebaut wurde als
"vertrauenswürdig". Ob sie das dann wirklich auch immer ist, sei
dahingestellt.
Nein. "Brockhaus" ist eben *nicht* nur eine Marke, die durch geschicktes
Marketing aufgebaut wurde; der Verlag hat sich in den vergangenen
hundert Jahren bei den Kunden einen praktischen *Gebrauchswert*
erarbeitet, einen phänomenologisch entstandenen "guten Ruf"; darauf
setzt dann irgendwann vielleicht Marketing auf, aber entscheidend ist
bei den (ge)wichtigen Brockhaus-Produkten, dass sie von den Benutzern
als "nützlich" und "hilfreich" akzeptiert wurden. Die
Brockhaus-Enzyklopädie steht *nicht* in allen wissenschaftlichen
Bibliotheken, weil das Marketing so klasse ist, sondern weil genau das,
was der Brockhaus liefert, benötigt wird.
[ Quantitative Vergleichbarkeit der Wikipedia mit Großlexika ]
Nachdem wir nun auf de: und en: die Größenordnung
ernsthafter
Enzyklopädien erreicht bzw. weit überschritten haben [...]
Erstens: Diese quantitative Argumentation ist eine Selbsttäuschung. Aus
der Tasache, dass sich en:Wikipedia in der Grössenordnung der 260k
Brockhaus-Artikel liegt, kann nicht automatisch *keine* Vergleichbarkeit
abgeleitet werden. Die nominelle Größenordnung der Artikelmenge ist ein
notwendiges, aber kein hinreichendes Vergleichkriterium. Ein erheblicher
Prozentsatz (in welcher Grössenordnung der genau liegt ist eine andere
Baustelle; für de:Wikipedia schätze ich nach den Stichproben der
vergangenen drei Monate 70 bis 90%, en:Wikipedia kenne ich nicht gut
genug für solche Aussagen) der Wikipedia-Artikel würde in einer
konventionellen Enzyklopädie nicht lemmatisiert werden.
Das wertet den Nutzwert der Wikipedia übrigens keineswegs ab; ganz im
Gegenteil, das was Wikipedia versucht, *muss* anders strukturiert sein
als eine Print-Enzyklopädie, daher muss auch anders lemmatisiert werden,
aber eine quantitative Vergleichbarkeit ist derzeit noch nicht gegeben.
[ Wikipedia ist derzeit keine Enzyklopädie ]
Zweitens ist Wikipedia derzeit keine Enzyklopädie, sondern ein
wörterbuchartiges (Konversations-) Lexikon, ähnlich den entsprechend
bezeichneten Produkten des 17. bis 19. Jahrhunderts in modernisierter
Form. Der Unterschied zwischen einem solchen Wörterbuch, das Erklärungen
zu Begriffen liefert, und einer Enzyklopädie liegt im
Universalitätsanspruch der letzteren; eine Enzyklopädie liefert eben
*nicht* nur Erklärungen zu (isoloierten) Begriffen mit ein paar
Querverweisen, sondern stellt den "Kreis des Wissens" oder eines
bestimmten Bildungs-/ Wissenskanons aus einer definierten Perspektive
erschöpfend dar und erklärt Dinge in ihrem *Zusammenhang* (das ist der
"Kreis" in egkyklios paideia). Die große *Chance* der Wikipedia besteht
darin, die erste Enzyklopädie des postmodernen Wissens zu schaffen (also
des Wissens nach der Auflösung der etablierten Wertsysteme der Moderne,
der Erschütterung des mathematisch-naturwissenschaftlichen
Gelungsanspruchs durch Heisenberg, Einstein und Gödel, des
pluralistischen und multiethnischen Wissens usw.).
Die Wikipedia kann derzeit prinzipbedingt aus verschiedenen Gründen
keine Enzyklopädie sein. Zum einen ist prinzipbedingt nicht möglich,
eine bestimmte Weltsicht als Interpretations- und Erklärungsraster zu
definieren; NPOV ist ein formales Kriterium, aber keine Weltsicht wie
"Christlich" bei den Enzyklopädien im Mittelalter oder "Aufklärerisch"
bei der "Encylopédie" von Diderot und d'Alembert. Wikipedia kann keinen
"Kreis" von Wissen bilden und daher keine Geschlossenheit erreichen,
weil der ideologische Überbau fehlt, der inhärent in *jeder* Enzyklopdie
steckt (ein solcher zeitgemäßer Überbau könnte m.E. beispielsweise das
sein, was Pekka Himanan und andere als "Hacker-Ethik" beschreiben);
Wikipedia weiss überhaupt nicht, welches "Wissen der Welt" sie als
enzyklopädisch relevant definiert; der Brockhaus weiss das dagegen sehr
genau und ist daher in der Lage "das Wissen der Welt" normativ und damit
enzyklopädisch darzustellen.
Beispiele: Weil Wikipedia keinen Mechanismus für eine strukturierte
Lemmaselektion hat, kann sich ein umfassendes, in sich geschlossenes
Begriffsfeld mit enzyklopädischer Kohäsion nur im Lauf eines längeren
Zeitraums evolutionär entwickeln, es kann aber nicht "top-down"
konstruiert werden, wie das Diderot konnte oder Brockhaus auch heute
noch kann. Wikipedia hat derzeit keine enzyklopädische Makrostruktur.
Im Vergleich zu einer Enzyklopädie fehlt der Wikipedia Kohärenz,
Konsistenz und Kohäsion; ein kleiner Versuch, mehr Konsistenz in der
Wikipedia zu erzeugen, ist mit der Abstimmung vom 16. Mai 2004 bzw. dem
allgemeinen Desinderesse an einer umfassenden technischen Lösung des
Problemfeldes (Synonymverwaltung) gescheitert. Aber auch das wäre nur
ein erster (winziger) Schritt in Richtung enzyklopädischer
Glaubwürdigkeit. Für eine Enzyklopädie ist noch viel mehr erforderlich.
Eine Enzyklopädie braucht Zusammenhalt zwischen den Artikeln, nicht nur
isolierte "exzelllente Artikel"; letztere würden wieder ein gutes
Wörterbuch bzw. Lexikon hervorbringen, eine Enzyklopädie braucht aber
vor allem Artikel, die untereinander stimmig sind, sowohl in ihrer
Gewichtung, in ihrer Begrifflichkeit, als auch in dem übergeordneten
Erklärungs- und Interpretationsraster, das aus isolierten
Wörterbuchartikeln enzyklopädisch *zusammenhängende* Artikel macht;
dafür gibt es in der Wikipedia bestenfalls für eine handvoll
Themenkreise erste Ansätze (WikiReader, einige Portale). Dafür reichen
auch einfache assoziative Querverweise nicht aus, das Mittel des
Verweissystems muss in einer Enzyklopädie *gezielt* eingesetzt werden,
wie dies Diderot und d'Alembert in ihrer "Encyclopédie" oder Bayle in
seinem (m.E. übrigens erheblich interessanterem) "Dictionnaire" gemacht
haben. Wäre in der derzeitigen Wikipedia ein Verweis von "Anthpophage"
(Menschfresser) auf "Eucharistie" sowie "Kommunion" und umgekehrt
vorstellbar, wie er in der "Encyclopédie" eingesetzt wurde? Wohl kaum.
[ Notwendige Schritte ]
qualitative Arbeit in den Vordergrund treten. Unser
nächster
Meilenstein nach der 100K muss lauten: 10.000 exzellente Artikel!
Kurzum: Was fehlt, ist ein gediegener "Peer
Review" Prozess. Dabei
auf den "intelligenten Leser" zu verweisen, der doch bitte selber
recherchieren möge, ist eine billige und höchst plumpe Ausrede, die
eines Wikipedianers unwürdig ist. Auch der "Wiki-Prozess" allein
hilft hier nicht weiter, weil ja schließlich ständig neues Material
hinzukommt, das mit dem existierenden in Einklang gebracht werden
muss.
Ganz richtig, nach diesen notwendigen Schritten wäre Wikipedia ein
konkurrenzfähiges Wörterbuch (im klassischen Begriffsverständnis) bzw.
ein modernes Konversationslexikon. Aber noch immer keine Enzyklopädie.
MfG -asb